Mitten im Krieg wurde Ungerechtigkeit beseitigt

Altersgrenze für Rentenbezug 1916 auf 65 Jahre gesenkt

Wer im hohen Alter von 70 Jahren noch arbeitsfähig sei, der müsse für dies seltene Geschenk Gott dankbar sein und könne eigentlich keine Rente verlangen. Mit diesem Argument begründete ein Vertreter der deutschen Reichsregierung im 19. Jahrhundert die Ablehnung einer Altersrente, die damals dann doch für die über 70jährigen Lohnarbeiter und wenig verdienende Angestellte eingeführt wurde. Im Ersten Weltkrieg wurde das Berufsleben im Deutschen Reich weiter verkürzt. Ein Gesetz vom 12. Juni 1916 senkte die Altersgrenze für den Rentenbezug auf 65 Jahre.

Für den konservativen Reichstagsabgeordneten Mumm war es ein "Ehrentag der deutschen Sozialreform", als die Parlamentsparteien sich einmütig für die Änderung aussprachen. Dabei beseitigte das Gesetz lediglich eine Ungerechtigkeit gegenüber Arbeitern und schlecht bezahlten Angestellten. Nur diese nämlich waren von der Reichsversicherungsordnung betroffen. Im Vergleich zur Angestelltenversicherung waren die durch sie festgesetzten Leistungen zweitklassig. Die Sondereinrichtung für Angestellte bestand seit 1911. Aus demselben Jahr datiert auch die Reichsversicherungsordnung, welche in erster Linie die Tätigkeit der Versicherungszweige vereinheitlichen sollte. Gegenüber der Angestelltenversicherung enthielt sie eine Reihe von schlechteren Bestimmungen, - nicht nur eine höhere Altersgrenze, sondern vor allem auch wesentlich ungünstigere Regelungen für die Witwen der Rentenversicherten. Während nach dem Angestelltenversicherungsgesetz jede Witwe eines Versicherten Anspruch auf Hinterbliebenenrente hatte, erhielten gemäß der Reichsversicherungsordnung nur die Witwen Renten, die selbst erwerbsunfähig waren. Im Jahr 1912 waren das gerade 4000 von den mehr als 200 000 Frauen der Versicherten, die in jenem Jahr gestorben waren. Von Arbeiterfrauen wurde erwartet, daß sie selbst für ihren Unterhalt aufkamen - auch im Alter. Angestelltenwitwen mutete das reaktionäre Kaiserreich eine Berufstätigkeit nicht zu. Sie erhielten nach dem Tod des Ehemannes zwei Fünftel seiner Rente.

Systematisch schufen und förderten die Regierungen des deutschen Reiches durch besondere Vergünstigungen einen kleinbürgerlichen Angestelltenstand, der sich um Distanz zu den handarbeitenden Lohnempfängern bemühte. Besonders seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kämpften in Deutschland starke Gruppen der Angestellten um besondere Privilegien. Den Regierungen kam dieser Wunsch entgegen. Sie waren zu einigen Zugeständnissen bereit, um die gefürchtete Vision einer Solidarisierung von Arbeitern und Angestellten nicht Wirklichkeit werden zu lassen. Aber im Krieg, als sich in den Schützengräben die sozialen Unterschiede verwischten, erschien es opportun, auch den Arbeitern entgegenzukommen. 1911 hatte die Regierung noch gedroht, die Reichsversicherungsordnung scheitern zu lassen, wenn auf einer Altersgrenze von 65 Jahren für den Rentenbezug beharrt würde. 1916 wagte sie es nicht mehr, diesen Wunsch kategorisch abzulehnen. Die Verringerung der Lebensarbeitszeit brachte zwar keine völlige, aber immerhin ein Stückchen mehr Gleichheit zwischen Arbeitern und Angestellten. Weitergehende Forderungen kamen vor allem von der Sozialdemokratischen Partei, die 1911 die Reichsversicherungsordnung abgelehnt, dem Angestelltenversicherungsgesetz jedoch zugestimmt hatte. In den Debatten des Jahres 1916 mußte die Regierungsseite harte Kritik einstecken. Die SPD beschuldigte sie der Manipulation. 1911 war eine niedrigere Altersgrenze unter Berufung auf die errechneten hohen Kosten abgelehnt worden. 1916 wurden korrigierte Berechnungen vorgelegt. In einer Reichstagsrede vermutete der Sozialdemokrat Molkenbuhr absichtliche oder grob fahrlässige Fehlkalkulationen: "Nun wird ja ... in der bekannten Denkschrift - und das ist neu - zum erstenmal zugegeben, daß Versicherungsmathematiker auch irren können und daß man ganz erheblich vorbeigerechnet hat, indem man nunmehr zugibt, daß die Herabsetzung der Altersgrenze ungefähr mit den halben Unkosten durchgesetzt werden kann, als man in der Begründung der Reichsversicherungsordnung angenommen hat. Nun sollte man glauben, daß man damals nicht nötig hatte, sich so zu irren, denn der größte Teil der Grundlagen, welche bei der neuen Denkschrift beachtet worden sind, lag bei der Ausarbeitung der Begründung zur Reichsversicherungsordnung auch schon vor. Sie hatten schon die Resultate der Berufszählungen von 1882, von 1895 und von 1907. Sie hatten gleichzeitig das Kartenmaterial aus der Invalidenversicherung von einigen Jahrzehnten zur Verfügung und waren also sehr wohl in der Lage bei richtiger Würdigung des Materials einigermaßen zutreffende Rechnungen aufzustellen."

Molkenbuhr setzte sich vehement, aber erfolglos, für weitere Verbesserungen der Alterssicherung ein. Unter anderem forderte er eine Herabsetzung der für den Rentenbezug vorausgesetzten Beitragswochen. Die Mindestzahl war nach der Annahme berechnet worden, daß durchschnittlich 40 Wochenbeiträge in einem Jahr entrichtet würden. Molkenbuhr hielt diese Regelung für ungerecht. Er verwies auf Zahlen aus dem Bereich der Invalidenrentenempfänger, wonach die Männer durchschnittlich 41 und die Frauen 37 Wochenbeiträge im Jahr bezahlt hätten. "Es ist daraus zu schließen", so Molkenbuhr, "daß die Leute bereits eine längere Zeit im Jahre arbeitslos sind, sodaß durchschnittlich nur auf ein Jahr reichlich 40 Wochenbeiträge kommen. Aber es sind doch auch Gruppen von Arbeitern, die auch dann, wenn sie nicht unter zufälliger Arbeitslosigkeit zu leiden haben, sondern deren Arbeit abhängig ist von der Witterung usw., wie das bei den Bauhandwerkern, Landarbeitern usw. der Fall ist, die im Durchschnitt noch nicht ganz 40 Wochen im Jahre arbeiten und dementsprechend Beiträge bezahlen. Es werden durchschnittlich 40 Wochenbeiträge im Jahre bezahlt und bei vielen bleibt es noch unter diesen, namentlich bei den Bauhandwerkern und Landarbeitern. ... So wird sich nunmehr ergeben, daß die Leute, wenn jetzt nach der neuen Novelle sie zwar in den Genuß der Altersrente kommen sollen, weil sie das 65. Lebensjahr überschritten haben, aber nicht die Altersrente erlangen können, weil sie nicht die nötige Anzahl Beitragswochen bezahlt haben." Auch nach der alten Regelung würden schon ungefähr 57 von 100 Personen, die sich um Altersrente bewürben, abgewiesen, weil sie nicht die festgesetzte Zahl von Wochenbeiträgen entrichtet hätten. Den SPD-Antrag, eine geringere Zahl von Wochenbeiträgen vorzuschreiben, lehnte die Reichstagsmehrheit ab.

Die Regierungsseite war nur zu geringfügigen Verbesserungen bereit. Aber die Senkung der Altersgrenze für den Rentenbezug änderte an der traurigen Situation der älteren Arbeiter in jenen Jahren kaum etwas. Durch harte Arbeit, unzureichende Nahrung, katastrophale Wohnverhältnisse und eine schlechte Krankenversorgung wurden die unteren Schichten im Kaiserreich früh verschlissen. Für Bürgertum und Adel mag es die "gute alte Zeit" gewesen sein, mancher von ihnen konnte wohl mit Recht von den "goldenen Jahren" schwärmen; das Arbeiterschicksal war dagegen erbärmlich, besonders im Alter. Mit 45, spätestens mit 50 Jahren waren zumindest die Industriearbeiter so ausgelaugt, daß ihre Einkünfte rapide sanken. Im Leistungslohnsystem konnten sie mit den Jüngeren nicht mithalten. Außerdem waren sie viel häufiger arbeitslos. Die karge Rente nach dem aufreibenden Berufsleben beendete Not und Elend auch nicht. Finanziell ging es den Altersrentnern häufig sogar schlechter als den Empfängern von Invalidenrenten. Deren Rente war im allgemeinen höher. Es bekam sie aber nur, wer zu mindestens zwei Dritteln erwerbsunfähig war. Zu spürbaren Rentenerhöhungen war aber die Regierung auch 1916 nicht bereit.

Jeden Tag verschlang die Kriegsführung 70 Millionen Reichsmark. Trotzdem wurde die billige Änderung der Reichsversicherungsordnung als großzüge Wohltat und deutscher Kraftakt gefeiert. Unter Bravo-Rufen von rechts beendete der Konservative Mumm seine Reichstagsrede mit der Beschwörung nationaler Stärke: "Und - mit dem Satze lassen sie mich schließen - es mag auch im Auslande als ein Zeichen deutschen Kraftbewußtseins aufgefaßt werden, daß wir uns in solcher Zeit zu einem Ausbau der Sozialreform entschließen."

Astrid Brand, 1986
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