Deutschland - einig Gewerkschaftsland

Chronik über den Aufbau des DGB im Osten

Teil IV - 1992

Am 1. Januar tritt das Stasi-Unterlagengesetz in Kraft. Es regelt den Zugang zu den Dossiers des Staatssicherheitsdienstes der DDR, der Daten über etwa 6 Millionen Menschen gespeichert hat. Als Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Aufbewahrung und Verwaltung der personenbezogenen Stasi-Akten ist Joachim Gauck Chef einer Behörde mit mehr als 3000 Planstellen. Bereits Mitte 1992 sind über 1,2 Millionen Anträge auf Akteneinsicht und Personenüberprüfungen eingegangen.

Eine Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, die das Grundgesetz überarbeiten soll, tagt am 16. Januar zum ersten Mal.

Am 22. Januar beschließt der DGB-Bundesvorstand in Hattingen Reformen: Die Programmatik, die Organisationsstruktur sowie die Arbeits- und Kommunikationsformen des DGB sollen in einem mehrjährigen Prozeß überprüft und modernisiert werden. Die Diskussion darüber begann schon vor der deutsch-deutschen Vereinigung, nach 1989 sehen sich die Gewerkschaften vor weitere Herausforderungen gestellt, die neue Antworten erfordern.

Im niederländischen Maastricht unterzeichnen am 7. Februar Vertreter der zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Staaten einen Vertrag über die Gründung einer Europäischen Union mit einheitlicher Währung und einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Bei den XVI. Olympischen Winterspielen vom 8. bis 23. Februar im französischen Albertville ist Deutschland mit zehn Gold-, zehn Silber und sechs Bronzemedaillen die erfolgreichste Nation. Bei den XXV. Olympischen Sommerspielen vom 25. Juli bis 9. August im spanischen Barcelona liegen in der Gesamtwertung die Sportler aus der GUS und den USA vor den bundesdeutschen Athleten.

Vor dem Landgericht Berlin beginnt am 10. Februar ein Prozeß gegen Erich Mielke, den ehemaligen DDR-Minister für Staatssicherheit. Der 84jährige ist angeklagt, 1931 in Berlin zwei Polizisten ermordet und einen dritten lebensgefährlich verletzt zu haben.

Im DGB-Landesbezirk Berlin-Brandenburg werden acht DGB-Kreise eingerichtet. Die konstituierenden Kreisdelegiertenversammlungen tagen in der Zeit vom 15. Februar bis zum 28. März. In der Bundeshauptstadt entstehen die Kreise Berlin-Nord (Vorsitzende: Burgunde Grosse) und Berlin-Süd (Vorsitzende: Ursula Schäfer), in Brandenburg die Kreise Cottbus (Vorsitzender: Walter Schophaus), Eberswalde (Vorsitzender: Volker Paprotny), Finsterwalde (Vorsitzende: Marion Scheier), Frankfurt/Oder (Vorsitzender: Volker Kulle), Neuruppin (Vorsitzender: Reinhard Porazik), und Potsdam (Vorsitzender: Detlef Baer).

Mit Kundgebungen und Streiks protestieren im Februar und März etliche tausend Werftarbeiter unter der Führung des DGB und der IG Metall gegen den Abbau von Arbeitsplätzen und eine Zergliederung der heimischen Schiffbauindustrie, die in dem strukturschwachen Bundesland ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist.

Der DGB-Bundesvorstand tagt am 10. März zum ersten Mal in einem der fünf neuen Bundesländer: in Sachsen-Anhalt. In Wernigerode werden Vorschläge für eine neue gesamtdeutsche Verfassung beschlossen. Es sollten Staatsziele verankert werden, um das Recht auf Arbeit, auf soziale Ordnung, auf Bildung, auf angemessenen Wohnraum und auf gleiche Chancen für Frauen und Männer in allen Lebensbereichen zu verwirklichen.

Im sachsen-anhaltinischen Halberstadt, wo 1892 Vertreter von 50 Gewerkschaften erstmals eine gemeinsame Dachorganisation wählten, die sogenannte Generalkommission, feiert der DGB am 11. März nach 100 Jahren das Jubiläum seiner Vorgängerorganisation. Als Geste der Dankbarkeit gegenüber der Stadt, die den Delegierten der Gewerkschaften damals Gastfreundschaft gewährte, stiftet der DGB dem Kinder- und Jugendnotdienst von Halberstadt eine halbe Million Mark.

Ein Sprachrohr der Jugendlichen in den neuen Ländern droht auszufallen: Mitte 1992 soll der Jugendradiosender DT 64 stillgelegt werden, weil seine Frequenz einem privaten Anbieter zusteht. Der DGB kämpft seit 1991 um seinen Erhalt. Am 11. März appellieren der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer und die Landesbeauftragten von Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen an die Ministerpräsidenten der vier Länder, sich für den Sender einzusetzen, "auch wenn DT 64 durch seine kritische und unbekümmerte Berichterstattung politisch nicht immer bequem ist". Dank der engagierten Fürsprache wird der Jugendsender als "mdr Sputnik" unter dem Dach des Mitteldeutschen Rundfunks weitergeführt.

"Berlin und Brandenburg – gemeinsam gehts besser" – unter diesem Motto organisierte der DGB-Landesbezirk Berlin-Brandenburg am 19. März in Potsdam ein Forum, auf dem unter anderem die Regierungschefs von Berlin und Brandenburg, Eberhard Diepgen und Manfred Stolpe, ihre Positionen erläuterten. Gewerkschaftlich sind die beiden Länder bereits vereinigt, der DGB setzt sich auch für den politischen Zusammenschluß ein.

In Schwerin tritt am 28. März die erste ordentliche DGB-Landesbezirkskonferenz Mecklenburg-Vorpommern zusammen. Die Delegierten wählen dort den DGB-Landesbeauftragten Peter Deutschland zum Vorsitzenden. Er setzt sich gegen die Hamburgerin Waltraud Menzel durch.

In Chemnitz versammeln sich am 3. und 4. April die Delegierten der ersten ordentlichen DGB-Landesbezirkskonferenz Sachsen. Zum Vorsitzenden wird der DGB-Landesbeauftragte Hanjo Lucassen gewählt.

"Daß die erste ordentliche Landesbezirkskonferenz hier in Chemnitz in diesem alten und traditionsreichen Industriezentrum stattfindet, ist auch ein Signal, daß es den Gewerkschaften darauf ankommt, die Industrie in Sachsen zu erhalten. Chemnitz wird das industrielle Herz Sachsens genannt. Die industriellen Herztöne sind aber sehr schwach geworden." Hanjo Lucassen auf der DGB-Landesbezirkskonferenz Sachsen.

"Dieser Prozeß der deutschen Einheit ist zum einen ein geistig-psychologischer Prozeß. Die Menschen in Ost und West müssen mit Kopf und Herz zusammenwachsen. Ebenso schwierig ist zum anderen der materielle, wirtschaftliche Prozeß. Das Ziel der Bemühungen des DGB ist, Ostdeutschland darf nicht das Armenhaus der Republik bleiben. Wenn wir eines gelernt haben müssen, dann dies: Mit den im westlichen Normalfall funktionierenden Instrumenten marktwirtschaftlicher Strukturpolitik kann man den Übergang von sozialistischer Kommandowirtschaft zu sozialer Marktwirtschaft nicht bewältigen. Und auch folgendes ist ein eherner Bestandteil aller dieser Erfahrungen: Wer traditionelle Industriestandorte erst aufgibt und auf völlig neue Unternehmensgründungen hofft, der hat diese Region im Kopf schon abgeschrieben." Michael Geuenich, Mitglied des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes, auf der Landesbezirkskonferenz Sachsen.

Zur ersten evangelisch-lutherischen Bischöfin wird am 4. April von der Nordelbischen Landessynode die Pröpstin Maria Jepsen gewählt.

Rechtsextremistische Parteien gewinnen am 5. April Mandate für zwei Länderparlamente: Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg beendet der Einzug der "Republikaner", denen 10,9 Prozent der Wähler ihre Stimme gegeben haben, die Alleinherrschaft der CDU. In einer Koalition mit der SPD stellt sie aber weiterhin den Ministerpräsidenten. In Schleswig-Holstein behauptet die SPD mit einem Sitz Vorsprung knapp ihre Mehrheit im Landtag. Die rechtsradikale Deutsche Volksunion erreicht 6,3 Prozent.

In der niederrheinischen Bucht verursacht ein Erdbeben am 13. April schwere Schäden.

Am 24. April beginnt ein Arbeitskampf im öffentlichen Dienst Westdeutschlands, drei Tage später wird flächendeckend gestreikt, zum ersten Mal seit 1974. Zeitweise sind bis zu 440 000 Beschäftigte im Ausstand. Der längste Streik im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik endet am 7. Mai mit einem Kompromiß, den viele Mitglieder der Gewerkschaft Öffentliche Dienste Transport und Verkehr ablehnen. In einer Urabstimmung votieren 55,9 Prozent gegen den Tarifabschluß. Der ÖTV-Vorstand verzichtet jedoch auf eine Wiederaufnahme des Streiks, weil sich 75 Prozent der Befragten für einen Arbeitskampf aussprechen müßten. Am 25. Mai stimmt der Gewerkschaftsvorstand der Tarifvereinbarung mit den Arbeitgebern zu.

In Magdeburg tagt am 25. April die erste ordentliche DGB-Landesbezirkskonferenz Sachsen-Anhalt. Bei der Wahl zum Vorsitzenden erhält der Landesbeauftragte Dr. Jürgen Weißbach 47 Stimmen, sein Gegenkandidat Johann Müller 22 Stimmen.

"Machen wir uns nicht vor, wer heute mit 45 Jahren arbeitslos wird und damit rechnen muß, daß er nur sehr schwer wieder Arbeit findet, wird auch dann ein zwiespältiges Gefühl zu dieser Gesellschaft entwickeln, wenn sein Leben finanziell abgesichert sein sollte. Arbeit heißt nicht nur Geld verdienen. Arbeit ist für die große Mehrheit der Inhalt des Lebens, ein wichtiger Teil vom Lebenssinn. Und mehr denn je sollten wir das Recht auf Arbeit als Grundrecht einfordern." Dr. Jürgen Weißbach auf der DGB-Landesbezirkskonferenz Sachsen-Anhalt.

"Arbeitnehmer im Westen haben seit Jahren erheblich geringere Reallohnsteigerungen, als Unternehmen an Nettogewinnzuwächsen verzeichnen konnten. Warum also sollten Arbeitnehmer erneute Opfer bringen, während die Bundesregierung gleichzeitig den Unternehmen Steuergeschenke macht und noch weitere Steuergeschenke verspricht.

Seit Beginn der deutschen Einheit zahlen vor allem untere und mittlere Einkommensbezieher, übrigens in West und Ost, ..., zuerst über die hohen Zinsen, dann über die Steigerung der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit und schließlich über die Erhöhung der Steuern.

Im übrigen, auch das sei zur Aufklärung deutlich gesagt, erleiden bereits die Arbeitnehmer West seit 1991 Realeinkommensverluste." Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Dr. Ursula Engelen-Kefer, auf der Landesbezirkskonferenz Sachsen-Anhalt.

"Teilen verbindet" lautet das Motto für die DGB-Veranstaltungen zum ersten Mai. Die Gewerkschaften fordern Solidarität, teilen sollen aber nicht nur die Westdeutschen mit den Ostdeutschen, sondern generell Wohlhabendere mit Ärmeren. Die finanziellen Transferleistungen in die fünf neuen Länder werden überproportional von denen aufgebracht, die Beiträge für die Sozialversicherungen zahlen, im Westen erarbeitete Beiträge werden im Osten verbraucht. Der DGB verlangt, die Kosten der Einheit gerechter auf alle Steuerzahler zu verteilen.

Die DGB-Jugend Thüringen schafft sich im Mai ein Infomobil an. Unterstützung vom DGB in Hessen sichert die Startfinanzierung. Ein ehemaliger Stadtbus wird umgebaut.

Im Alter von 90 Jahren stirbt am 6. Mai in Paris der Kinoweltstar Marlene Dietrich. Die Hollywood-Diva wird auf eigenen Wunsch in Berlin begraben.

Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) verabschiedet am 11. Mai 140 Sanitätssoldaten der Bundeswehr, die nach Kambodscha fliegen, um dort Truppen der Vereinten Nationen medizinisch zu unterstützen. Erstmals beteiligen sich deutsche Soldaten an einer UNO-Aktion. Der Einsatz deutscher Soldaten außerhalb des NATO-Gebietes wird in der Bundesrepublik kontrovers diskutiert.

Durch einen 2:1-Sieg über Bayer Leverkusen gewinnt der VfB Stuttgart am 16. Mai die Deutsche Fußballmeisterschaft. Im Wettbewerb um den DFB-Pokal triumphiert am 23. Mai in Berlin der Zweitligaklub Hannover 96 mit 4:3 über Borussia Mönchengladbach.

Auf der ersten ordentlichen DGB-Landesbezirkskonferenz Thüringen am 23. Mai in Erfurt stellen sich drei Bewerber der Abstimmung über den Vorsitzenden. Im zweiten und letzten Wahlgang erhält Frank Spieth 28 Stimmen, Matthias Ladstädter 21, und auf den Landesbeauftragten Wolfgang Erler entfallen 18 Stimmen.

"Mein Ziel ist es, ..., gemeinsam mit den hier in Thüringen vertretenen Gewerkschaften eine Politik zu formulieren, die auf mehr Arbeitsplatzsicherung, auf mehr Arbeitsplätze hinausgeht, auf mehr soziale Sicherung, insbesondere den Kampf gegen zunehmende Verarmung. Ich meine, wir haben gemeinsam ein riesiges Feld von Aufgaben hier zu erfüllen. Ein guter Freund von mir hat gesagt, es ist im Grunde genommen nicht nur die Aufgabe eines Moderatoren, sondern auch die Aufgaben eines Lotsen, und so möchte ich auch meine Arbeit verstehen. Das heißt, wenn in Hamburg ein großer Pott über die Elbe zum Hafen soll, wird ein Lotse an Bord geholt, der im Grunde genommen das Wasser kennt, die Gefährdungen kennt, der die Möglichkeiten besitzt, Gefährdungen abzuwenden, im Sinne des großen Schiffes. In dem Fall übertragen des DGB." Frank Spieth auf der DGB-Landesbezirkskonferenz Thüringen.

"Die Gewerkschaften in den neuen Ländern ... müssen sich ... für lange Zeit, ob sie das wollen oder nicht, auch mit dem Erbe des FDGB auseinandersetzen. Auch wenn es ausdrücklich keine Rechtsnachfolge gibt, bleiben doch, ..., die Erfahrungen der Menschen mit dem früheren FDGB und die daraus herrührenden Erwartungen an die neuen Gewerkschaften. Mit einem Problem sind wir ganz gut fertig geworden, mit dem Mißtrauen und der Ablehnung gegenüber jedem gewerkschaftlichen Engagement, das die Anfangszeit prägte. ... Aber in einem anderen Bereich haben wir noch schwer mit dem FDGB-Erbe zu kämpfen. Daß die westlichen Gewerkschaften sich von ihrer Aufgabenstellung und Struktur her vom alten FDGB vollkommen unterscheiden, ist vielen eben noch nicht bewußt. Gelegentlich begegne ich immer noch der Einstellung, die Gewerkschaften seien sozusagen ein Teil der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur. Wenn sie nur wollten, dann müßten Parlamente und Regierung, aber auch Arbeitgeber und Betriebsleitungen sich beugen. ... Was wir erreichen können, ..., können wir nicht anordnen und auch nicht demütig erbitten, sonden wir müssen es uns selbst erkämpfen. ... Freie Gewerkschaften, ..., sind wirkliche Selbsthilfeorganisationen. Sie brauchen Mitglieder mit der Bereitschaft zum eigenen Einsatz, das macht unsere Stärke aus." Dr. Regina Görner, Mitglied des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes, auf der DGB-Landesbezirkskonferenz Thüringen.

"Grenzenlos – Feiern, Diskutieren, Handeln" wollen Jugendliche aus 16 europäischen Ländern am 2. und 3. Juni in Frankfurt/Oder. Neben der Stadt an der deutschen Staatsgrenze liegt das polnische Slubice. Bei einem Festakt unterschreiben die beiden Stadtrepräsentanten, das Geschäftsführende DGB-Bundesvorstandsmitglied Dr. Regina Görner und Andrzej Steczynski von der polnischen Arbeitnehmerorganisation Solidarnosc die Jugendcharta "Für ein offenes und soziales Europa".

"Stabilisierung statt Zerstören – ein industriepolitisches Sofortprogramm mit arbeitsmarktpolitischer Flankierung für die neuen Bundesländer" legt der DGB am 3. Juni 1992 der Öffentlichkeit vor.

Der DGB verteilt Kondome – zur Aufklärung. Im Bündnis mit anderen Organisationen engagieren sich die Gewerkschaften in Mecklenburg-Vorpommern für die Abschaffung des Paragraphen 218. Am 13. Juni blockieren sie in Neubrandenburg, Rostock und Schwerin Straßen, um Informationsmaterial inklusive der Präservative an Autofahrer und Passanten zu verteilen. Die Resonanz ist positiv. Einige Wagenlenker sollen sogar Runden gedreht und das Angebot mehrfach genutzt haben.

In einem Volksentscheid stimmen die Bürger Brandenburgs am 14. Juni über eine Verfassung für das Land ab. Nur 48 Prozent der Stimmberechtigten nehmen an dem Urnengang teil, 94 Prozent votieren mit "ja". In der Verfassung sind auch etliche Vorschläge des DGB-Landesbezirks Berlin-Brandenburg berücksichtigt, die Gewerkschaften rufen mit einem Flugblatt zur Teilnahme an dem Volksentscheid und einem positiven Votum auf. In Sachsen trat die neue Verfassung bereits am 27. Mai 1992 in Kraft, nachdem der Landtag sie am Tag zuvor verabschiedet hatte, auf eine Befragung der Bürger wird verzichtet. Die Bundesländer Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen erhalten ebenfalls Verfassungen, der DGB beteiligt sich intensiv an den Diskussionen darüber.

Am 26. Juni beschließt der Bundestag ein neues Abtreibungsgesetz, das eine Fristenlösung vorsieht. Es erlaubt eine Abtreibung innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen, sofern sich die Frau vorher beraten läßt. Ein neues Gesetz ist notwendig, weil in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Regelungen gelten. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet 1993, daß die Fristenlösung mit Beratung grundgesetzwidrig sei.

Die deutsche Tennisspielerin Steffi Graf gewinnt am 5. Juli in Wimbledon zum vierten Mal das Damen-Einzel.

"Für die Wende zu einer sozialen Politik in Deutschland" plädiert der DGB-Bundesvorstand mit einer am 7. Juli verabschiedeten Entschließung. Der Industriestandort Ostdeutschland müsse durch gezielte Sanierungen erhalten werden, dringend notwendig seien zudem eine aktive Arbeitsmarktpolitik und soziale Reformen im Wohnungs- und im Gesundheitswesen. Die Kosten sollten durch eine Ergänzungsabgabe für Gutverdienende, einen Arbeitsmarktbeitrag, Einsparungen im Verteidigungshaushalt und den Verzicht auf Steuersenkungen für Unternehmer finanziert werden. Mit bundesweiten Aktionen macht der DGB im Spätsommer und Herbst auf dieses Programm aufmerksam.

Im Sommer beginnt eine neue Welle von Gewalt gegen Ausländer, die Haßausbrüche kosten mehrere Menschen das Leben. Die Serie der Übergriffe startet am 22. August in Rostock-Lichtenhagen vor der zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern. Rechtsradikale Jugendliche bewerfen die Ausländerunterkünfte mit Steinen und Brandsätzen und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Schaulustige feuern die Gewalttäter an. Die Auseinandersetzungen dauern mehrere Tage, die Polizei ist offensichtlich völlig überfordert. Das Ansehen Deutschlands im Ausland wird durch diesen Vorfall und weitere Anschläge in den folgenden Monaten schwer beschädigt. Der DGB und seine Gewerkschaften werben in der Öffentlichkeit für den toleranten Umgang mit Minderheiten; sie organisieren Kundgebungen, schließen Aktionsbündnisse, verbreiten Aufklärungsmaterial im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Hunderttausende Menschen demonstrieren im November und Dezember in der Bundesrepublik gegen Fremdenfeindlichkeit. Herausragend ist die 45 Kilometer lange Lichterkette, die über 400 000 Demonstranten mit Kerzen, Lampions, Fackeln und Taschenlampen am 6. Dezember in München bilden.

"Frau geht vor" propagiert der DGB-Bundesvorstand am 4. September in Bonn bei der Vorstellung einer für mehrere Jahre geplanten Initiative. Am Sitz der Bundesregierung erläutert die stellvertretende DGB-Vorsitzende Dr. Ursula Engelen-Kefer der Öffentlichkeit Vorgaben für ein Gleichstellungsgesetz. Mit vielfältigen Aktivitäten wirbt der DGB für Frauenförderung, für eine wirtschaftlich und sozial eigenständige Sicherung der Frauen, für Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und für Maßnahmen, die Müttern Berufstätigkeit ermöglichen oder erleichtern.

Am 7. September wird auf einer Kreisdelegiertenversammlung des DGB in Gotha Klaus Schüller zum Vorsitzenden gewählt.

Beim Deutschen Umwelttag, der sich vom 18. bis 22. September in Frankfurt präsentiert, stellt der DGB als erfolgreiche Gewerkschaftsinitiative die Einrichtung von Umweltberatungsstellen für Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern vor.

Ein Brandanschlag auf die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen (Oranienburg) zerstört in der Nacht zum 26. September die sogenannte jüdische Baracke. Die Polizei registriert vermehrt antisemitische Delikte.

Im September eröffnet die DGB-Jugend in Chemnitz als Projekt des "Initiativprogramms zum Aufbau der Jugendarbeit in den neuen Ländern" die Jugendbegegnungsstätte "Pavillon". In anderen ostdeutschen Städten werden ähnliche Einrichtungen aufgebaut, das "Backdoor" in Frankfurt/Oder, "JBB" in Potsdam, die "Lunte" in Rostock, das "Ritz" in Bad Bibra und "Streetwork" in Bautzen. Sie bieten Informationen und vielfältige Angebote zur Freizeitgestaltung.

Im Osten Deutschlands stellen die Frauen im September 65 Prozent der registrierten Arbeitslosen, im Westen 47 Prozent. Für den hohen Anteil der Frauen in den neuen Bundesländern gibt es mehrere Ursachen: Sie sind stärker von Entlassungen betroffen als Männer, haben größere Schwierigkeiten, einen neuen Job zu finden, profitieren weniger von Fördermaßnahmen der Arbeitsämter, es sind mehr Männer in den Vorruhestand gegangen als Frauen und die Erwerbsneigung der ehemaligen DDR-Bürgerinnen ist größer als die der Frauen im Westen. Der DGB hat schon vor der Vereinigung vor dieser Entwicklung gewarnt und sich seitdem besonders um Beiträge zur Lösung des Problems bemüht.

Die SPD verliert am 8. Oktober ihren Ehrenvorsitzenden Willy Brandt. Der Altbundeskanzler und Friedensnobelpreisträger stirbt 78jährig in Unkel.

Die Ostdeutschen holen auf. Die Kämpfe der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder für höhere Löhne und Gehälter haben sich gelohnt. Im Oktober 1991 verdiente ein Arbeiter in der ehemaligen DDR durchschnittlich nur 52,6 Prozent der Summe, die einem Kollegen im Westen überwiesen wurde. Ein Jahr später sind es bereits 65,5 Prozent. Die Angestellten in den fünf neuen Ländern haben sich von 43,2 auf 54,4 Prozent verbessert. Viele erhofften sich eine schnellere Angleichung der Lebensverhältnisse in West und Ost, aber die Durchsetzung höherer Einkommenssteigerungen wird durch die ungünstige Wirtschaftslage erschwert.

Im November beginnt in Sachsen die "ATLAS"-Projektgruppe mit ihrer Arbeit. "ATLAS" steht für "Ausgesuchte Treuhandunternehmen vom Land angemeldet zur Sanierung" und geht auf eine Initiative des Sächsischen Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit und der IG Metall zurück. In einer Vereinbarung mit der Landesregierung erklärte sich die Treuhandanstalt bereit, unter bestimmten Voraussetzungen von der Regierung benannte, noch nicht privatisierte Firmen zu sanieren, Sachsen verpflichtete sich, den Umstrukturierungsprozeß finanziell und durch Bürgschaften zu unterstützen. Die Projektgruppe benennt Firmen, beurteilt und erarbeitet Sanierungskonzepte, über die Umsetzung entscheidet die Treuhandanstalt. In anderen ostdeutschen Ländern werden – mit Unterstützung der Gewerkschaften – ähnliche Konzeptionen erarbeitet.

In Berlin beginnt am 12. November ein Prozeß gegen den ehemaligen Vorsitzenden des DDR-Staatsrates und SED-Chef Erich Honecker und fünf weitere ehemalige DDR-Politiker. Sie werden wegen vollendeten und versuchten Totschlags an DDR-Flüchtlingen angeklagt. Honecker hat sich seiner Verhaftung durch einen Aufenthalt in Moskau zunächst entzogen.

Mit einem Rockkonzert und einer Talkrunde stellt sich am 14. November in Dresden "Courage" vor. Das Bündnis hat es sich zur Aufgabe gemacht, in der sächsischen Bevölkerung die Zivilcourage zu fördern und dadurch den Rechtsradikalismus und die Ausländerfeindlichkeit einzudämmen. Begründet wurde es von der IG-Metall-Jugend in Sachsen, erster Verbündeter war die DGB-Jugend des Landes, über 40 weitere Jugendorganisationen und -initiativen aus Sachsen schlossen an.

In einer gemeinsamen Erklärung fordern der DGB-Landesbezirk Thüringen und der Verband der Wirtschaft Thüringen am 19. November die Landesregierung auf, "Schritte zum Erhalt der industriellen Basis in Thüringen einzuleiten". Die CDU-FDP-Koalition geht nur zögernd auf die Vorschläge der Gewerkschaften und der Arbeitgeber zur aktiven Sanierung von Unternehmen ein. Die Konzepte zur Entwicklung industrieller Zentren sind nach Ansicht der Arbeitnehmerorganisationen unzureichend. Ab dem 13. Juli 1993 wird der Protest gegen die Politik der Landesregierung durch das "Thüringer Aktionsbündnis" verstärkt; Betriebs- und Personalräte, Gewerkschaften und DGB bündeln ihre Kräfte in diesem Zusammenschluß. Als ein Erfolg dieses Engagements wird die Gründung des "Thüringenbeteiligungsfonds" im Dezember 1993 gewertet, die Stiftung soll gefährdeten privatisierten Unternehmen durch Minderheitsbeteiligungen eine Überlebenschance geben.

Das aus den DDR-Bürgerrechtsbewegungen hervorgegangene Bündnis 90 und die Grünen fusionieren. Am 23. November unterschreiben die Vorstände der beiden Parteien den Vertrag über ihre Vereinigung, der im folgenden Jahr von den Mitgliedern mit Zweidrittelmehrheit bestätigt werden muß.

Am 1. Dezember nimmt Peter Bollfraß seine Arbeit als Kreisvorsitzender in Stendal auf.

In Deutschland gab es so etwas vorher noch nie. Ungefähr 3500 Polizeibeamte in Uniform folgen dem Aufruf der Gewerkschaft der Polizei in Nordrhein-Westfalen zu einem landesweiten Protest gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Ausländerhaß, sie demonstrieren am 10. Dezember in Düsseldorf.

Den Verkauf von Platten oder Musikkassetten mit ausländerfeindlichen Texten einzustellen, fordert der DGB am 14. Dezember vom Handel.

Den Hans-Böckler-Preis, die nach dem ersten DGB-Vorsitzenden benannte höchste Auszeichnung der deutschen Gewerkschaften, erhalten am ... in Ost-Berlin zwei Betriebsräte aus den neuen Bundesländern. Die Verleihung des Preises an die Arbeitnehmervertretungen der Schiffswerft Neptun GmbH in Rostock und der Stickstoffwerke AG Wittenberg-Piesteritz soll "alle Interessenvertretungen in den neuen Ländern ermutigen, den Kampf für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen nicht aufzugeben", sagt Michael Geuenich vom Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstand in seiner Laudatio.

Die Arbeitslosenzahlen steigen im Jahresdurchschnitt 1992 erneut: In den alten Bundesländern sind über 1,8 Millionen Personen registriert, in den neuen fast 1,2 Millionen. Die tatsächliche Misere spiegeln diese Angaben nur unvollkommen. Hunderttausende schönen die Statistik, weil sie Kurzarbeiter sind, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt werden, an Kursen zur beruflichen Weiterbildung teilnehmen oder von Vorruhestandsregelungen profitieren.

Die Einwohnerzahl im Gebiet der ehemaligen DDR ist seit 1989 um fast eine Million gesunken. Vor allem junge Menschen haben ihre Heimat verlassen. Die meisten nahmen einen Wohnsitz in den alten Bundesländern.

Die ostdeutschen Arbeitnehmer verdienen Ende 1992 immer noch erheblich weniger als ihre KollegInnen in den alten Bundesländern. Die tariflichen Grundvergütungen sind aber im Vergleich zum Vorjahr überwiegend zwischen 20 und 30 Prozent angehoben worden. Die Gewerkschaften wehren sich gegen den Vorwurf, die Lohnerhöhungen würden angesichts der geringen Produktivität in Ostdeutschland ein entscheidender Grund für die wirtschaftliche Misere in den neuen Ländern und damit für die hohe Arbeitslosigkeit sein. Sie verweisen auf wichtigere Ursachen für die Probleme der Unternehmen: unter anderem auf den Wegfall der Ostmärkte, den Mangel wettbewerbsfähiger Produkte, den teilweise veralteten Produktionsapparat, die ungeklärte Eigentumsfragen, die unerfahrenen öffentlichen Verwaltungen, auf die Schwierigkeiten, neue Produkte bekannt zu machen und Vorbehalte gegen Ostfirmen zu überwinden. Keines dieser Probleme ließe sich durch niedrigere Löhne lösen, eher verschärften sie die Situation, weil sich noch mehr qualifizierte ostdeutsche Arbeitnehmer im Westen gutbezahlte Jobs suchen würden.

Die Arbeitslosigkeit trifft auch die Gewerkschaften. Wer seinen Job verliert, gibt oft die Mitgliedschaft auf. Am Ende des Jahres werden noch gut 11 Millionen Organisierte gezählt.

Astrid Brand, 1996
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