Deutschland - einig Gewerkschaftsland

Chronik über den Aufbau des DGB im Osten

Teil II - 1990

Die Bevölkerung der DDR fordert die Vereinigung ihres Staates mit der Bundesrepublik. Vor allem die glitzernde Konsumwelt des Westens fasziniert im Osten. "Kommt die D-Mark nicht nach hier, gehen wir zu ihr", skandieren Teilnehmer der Massendemonstrationen jener Tage. Viele DDR-Bürger wollen nicht warten, bis die Politiker den Mehrheitswillen vollstreckt haben. Allein vom 1. bis zum 29. Januar lassen sich 56 177 Menschen in der Bundesrepublik als Übersiedler registrieren.

Die junge sozialdemokratische Partei in der DDR ändert auf ihrer Delegiertenkonferenz vom 12. bis 14. Januar in Ost-Berlin ihren Namen: Aus der SDP wird die SPD. Den "Bruch mit der Vergangenheit" will die SED-PDS mit einem neuen Namen dokumentieren. Der Parteivorstand beschließt am 4. Februar die Umbenennung in "Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS).

Die für den 6. Mai 1990 geplanten Wahlen zur Volkskammer werden auf den 18. März vorgezogen. Darauf einigen sich am 28. Januar die Regierung und die am Runden Tisch vertretenen Parteien und Gruppierungen. Am 5. Februar wird der Ministerrat durch die Aufnahme von acht Oppositionspolitikern zur "Regierung der nationalen Verantwortung" erweitert. Die Parteienlandschaft formiert sich neu: Es entstehen mehrere Wahlbündnisse: unter anderem die konservative "Allianz für Deutschland" mit der DDR-CDU, das "Bündnis 90" als Zusammenschluß mehrerer Bürgerbewegungen, der liberale "Bund Freier Demokraten".

Der frühere Staats- und Parteichef der DDR, Erich Honecker, wird am 29. Januar in Ost-Berlin in Untersuchungshaft genommen, obwohl der behandelnde Arzt ihn für haftuntauglich erklärt. Bereits am nächsten Tag kommt er jedoch frei.

Auf einem außerordentlichen Kongreß wird am 31. Januar und 1. Februar in Ost-Berlin der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) als Dachverband unabhängiger Gewerkschaften konstituiert. Die neue Satzung soll bis zum ordentlichen Kongreß im Herbst gelten. Zur Vorsitzenden des geschäftsführenden Vorstandes wählen die Delegierten Helga Mausch.

Hans Modrow, der Vorsitzende des DDR-Ministerrats, wendet sich am 1. Februar mit seinem Konzept für die Lösung der "deutschen Frage" an die Öffentlichkeit. Er plädiert für einen schrittweisen Übergang zu einem "einheitlichen deutschen Staat" und für die "militärische Neutralität von DDR und BRD" auf dem Weg dorthin.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) empfiehlt am 8. Februar die Bildung eines "Gesamtdeutschen Tisches" der Regierungen, Gewerkschaften und Unternehmerorganisationen. Die Teilnehmer müßten über Maßnahmen beraten, wie der DDR zu helfen sei, damit der Strom der Übersiedler in die Bundesrepublik gestoppt werde.

Der Geschäftsführende Bundesvorstand des DGB beschließt am 12. Februar die Einrichtung einer Verbindungsstelle in Ost-Berlin. Sie soll die Entwicklung der Gewerkschaften in der DDR beobachten, das Gesetzgebungsverfahren in der Volkskammer verfolgen und Kontakte zu den dort vertretenen Parteien pflegen. Die Bemühungen zur Reform des FDGB werden im DGB skeptisch beurteilt. Noch dominierten die alten Funktionäre und die PDS versuche, die Organisation zu vereinnahmen. Positiv wird die Bildung autonomer Gewerkschaften unter dem Dach des FDGB eingeschätzt. Deren Erneuerungsfähigkeiten seien aber unterschiedlich, die Beziehungen der DGB-Gewerkschaften zu den FDGB-Verbänden differierten deshalb.

Am 13. Februar einigen sich Hans Modrow und Bundeskanzler Helmut Kohl bei Gesprächen in Bonn auf die Bildung einer gemeinsamen Kommission zur Vorbereitung einer Währungsunion und einer Wirtschaftsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten. Die Forderung des Runden Tisches nach einem "Solidarbeitrag" von 10 bis 15 Milliarden DM für die DDR wird von der Bundesregierung abgelehnt.

Der DGB befürwortet finanzielle Hilfen für die DDR-Bevölkerung. Am 20. Februar empfiehlt der DGB-Vorsitzende Ernst Breit bei einem Gespräch mit dem Bundeskanzler in Bonn ein 15-Milliarden-Sofortprogramm der Bundesregierung, das die Infrastruktur der Bereiche Kommunikation, Transportwesen und Energieversorgung in der DDR verbessern solle.

Der DGB-Landesbezirksvorstand Hessen beschließt am 26. Februar die Eröffnung eines Büros in Erfurt. Am selben Tag bilden die DGB-Gewerkschaften in West-Berlin und der DGB-Landesbezirk mit den Gewerkschaften der DDR-Bezirke Berlin, Frankfurt/Oder und Potsdam einen gewerkschaftlichen Regionalausschuß Berlin-Brandenburg. Mehr Information und Kooperation bei gemeinsamen Problemen versprechen sich die Beteiligten. Bei der ersten Sitzung am 20. März wird eine gemeinsame Veranstaltung am 1. Mai vereinbart.

Mit zwei Millionen DM aus dem Solidaritätsfond sollen deutsch-deutsche Gewerkschaftskontakte finanziert werden. Das entscheidet der Geschäftsführende Bundesvorstand des DGB am 28. Februar. Ein Teil des Geldes ist für die Arbeit der Verbindungsstelle verplant.

Eine "Entschließung zur deutschen Einheit" verabschiedet der DGB-Bundesausschuß am 7. März. Das höchste DGB-Gremium außer den Bundeskongressen betont darin die Bereitschaft, den Aufbau freier und unabhängiger Gewerkschaften in der DDR zu fördern.

Am 9. März veröffentlichen der DGB und die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände eine gemeinsame Erklärung zu einer einheitlichen Wirtschafts- und Sozialordnung in beiden deutschen Staaten.

Der Demokratische Aufbruch verliert kurz vor der Volkskammerwahl seinen Vorsitzenden und Spitzenkandidaten. Wolfgang Schnur tritt am 14. März wegen seiner Zusammenarbeit mit dem "Staatssicherheitsdienst" der DDR von diesen Ämtern zurück und wird am nächsten Tag aus der Partei ausgeschlossen. Die Spitzeltätigkeit für die politische Geheimpolizei, die in der Bevölkerung auch abgekürzt als Staatssicherheit (Stasi) firmiert, bringt in der Folgezeit noch etliche Politiker zu Fall.

In Magdeburg eröffnet der DGB-Landesbezirk Niedersachsen am 16. März ein Beratungsbüro.

Bei den ersten freien, allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen in der DDR stellen sich am 18. März 24 Parteien, andere politische Gruppierungen und Listenvereinigungen dem Votum der ungefähr 12,2 Millionen Stimmberechtigten. Als Sieger im Kampf um die 400 Sitze in der Volkskammer steht am Abend die "Allianz für Deutschland" mit der dominierenden CDU fest, 48,15 Prozent der Wähler favorisieren dieses konservative Wahlbündnis, die SPD kommt überraschend nur auf 21,84 Prozent, die PDS auf 16,33 Prozent, viertstärkste Kraft ist der Bund Freier Demokraten mit 5,28 Prozent der Stimmen. Das Bündnis 90 landet mit 2,9 Prozent auf dem fünften Platz, den Vätern und Müttern der friedlichen Revolution wollen die DDR-Bürger die Entscheidung über ihre Zukunft offenbar nicht überlassen. Die "Allianz für Deutschland", die SPD und der Bund Freier Demokraten bilden eine Koalitionsregierung mit Lothar de Maizière, dem Vorsitzenden der CDU in der DDR, an der Spitze. Seine Parteifreundin Dr. Sabine Bergmann-Pohl wird zur Volkskammerpräsidentin und damit zum Staatsoberhaupt gewählt.

Der DGB-Landesbezirk Hessen eröffnet am 21. März in Erfurt ein Büro.

Die Vereinigung der Bundesrepublik und der DDR müsse Bestandteil des europäischen Einigungsprozesses sein, fordert der DGB-Vorsitzende Ernst Breit am 4. April in Offenbach bei einem Gespräch mit Journalisten. Er habe kein Verständnis für das Motto "Deutschland über alles, Europa unter anderem".

Das Neue Forum Leipzig bittet die DGB-Gewerkschaften am 17. April brieflich um Hilfe bei der Betreuung der inzwischen mehr als 600 entstandenen Betriebsräte im Bezirk Leipzig.

Die DGB-Jugend unterstützt die KollegInnen in der DDR vom 17. bis 20. April mit einer Tour ihres Infobusses, der vor Berufsschulen, Lehrlingswohnheimen und Betrieben in den Bezirken Berlin, Cottbus, Frankfurt und Potsdam Halt macht. Die Fahrt wird gemeinsam mit der "Initiativgruppe Gewerkschaftsjugend" organisiert, die sich als "die" Gewerkschaftsjugend in der DDR versteht. Die Gruppe, die von Ehrenamtlichen gegründet wurde, will in einem erneuerten FDGB und seinen Gewerkschaften die Jugendarbeit nach dem Vorbild der DGB-Jugend verankern. "Wir für uns" heißt ihre Parole.

Wie soll die deutsche Einheit gestaltet werden? Antworten auf diese Frage enthält eine vom DGB-Bundesvorstand am 18. April verabschiedete Vorlage mit dem Titel "Grundzüge der Arbeits- und Sozialordnung in einem geeinten Deutschland". Auf derselben Sitzung werden die "Aufgaben des DGB im Zusammenhang mit dem deutsch-deutschen Einigungsprozeß" bestimmt. Überlegungen, gemeinsam mit dem FDGB eine einheitliche deutsche Gewerkschaftsbewegung zu schaffen, erteilt der Bundesvorstand eine Absage; der FDGB sei in der ostdeutschen Bevölkerung diskreditiert und seine Reformbemühungen genügten den Maßstäben nicht, denen der DGB verpflichtet sei.

Hundert Jahre Tradition haben die Maifeiern der Gewerkschaften im Jahr 1990. In Berlin wird die Kundgebung noch durch einen anderen Jahrestag aufgewertet, der Fall der Mauer macht es möglich: GewerkschafterInnen aus Ost- und West-Berlin versammeln sich zur ersten gemeinsamen Maifeier seit 1947 auf dem Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude. Hauptredner ist der DGB-Vorsitzende Ernst Breit. "100 Jahre 1. Mai – Solidarität sichert unsere Zukunft", lautet das Motto der Veranstaltungen.

Über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten entscheiden nicht die Deutschen allein. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges lassen sich nicht übergehen. Am 5. Mai beginnen in Bonn die "2+4-Gespräche" der Außenminister. Vertreten sind die UdSSR, die USA, Frankreich und Großbritannien sowie die Bundesrepublik und die DDR. Nach den Verhandlungen wird am 12. September in Moskau der "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" unterschrieben. Die Siegermächte verzichten damit auf ihre Souveränitätsvorbehalte, die Grenzen von Deutschland werden fixiert.

Der FDGB soll aufgelöst werden. Das beschließen am 9. Mai in Ost-Berlin die Vorsitzenden der unter seinem Dach vereinigten Organisationen. Bis zum förmlichen Vollzug dieser Entscheidung übernimmt ein Sprecherrat die Vertretung der Gewerkschaften.

Die DGB-Gewerkschaften sehen drei Wege zur Schaffung einheitlicher Arbeitnehmervertretungen in Ost- und Westdeutschland: Möglich wäre die Fusion mit demokratisch erneuerten ehemaligen FDGB-Gewerkschaften, der Zusammenschluß mit neugegründeten Gewerkschaften in der DDR oder der Beitritt der DDR-Arbeitnehmer in die DGB-Gewerkschaften. In Düsseldorf berät am 9. Mai ein Ausschuß des DGB-Bundesvorstands mit Vertretern der Gewerkschaften über ihre Aktivitäten in der DDR.

Am 10. Mai vereinbart der DGB-Vorsitzende Ernst Breit in Düsseldorf bei einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Sprecherrats der Gewerkschaften und Industriegewerkschaften der DDR, Peter Rothe, eine Zusammenarbeit auf organisatorischem und gewerkschaftspolitischem Gebiet.

Im FDGB konstituiert sich auf Drängen der Initiativgruppe Gewerkschaftsjugend am 10. Mai der Provisorische Gewerkschaftsjugendrat. Der Beschluß zur Liquidierung des Dachverbandes entzieht der Neugründung den Rückhalt, sie bemüht sich aber gemeinsam mit der Initiativgruppe bei der Reorganisation der Gewerkschaften in der DDR geeignete Strukturen für die Jugendarbeit durchzusetzen. Seit dem Herbst 1990 nehmen Vertreter des Jugendrates an den Beratungen des DGB-Bundesjugendausschusses teil.

In einer gemeinsamen Stellungnahme kritisieren am 15. Mai der DGB-Bundesvorstand und der Sprecherrat der Gewerkschaften und Industriegewerkschaften der DDR den Entwurf für einen Staatsvertrag der BRD und der DDR. Grundsätzlich sei aber berücksichtigt worden, daß der Vereinigungsprozeß die soziale Lage der Arbeitnehmer in Ost- und Westdeutschland nicht verschlechtern dürfe.

Als Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Einheit wird am 18. Mai in Bonn von der Bundesrepublik und der DDR der "Staatsvertrag zur Schaffung der Währungs-, Wirtschaft- und Sozialunion" geschlossen. Hartes Westgeld erhält die DDR am 1. Juli. Den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft haben die DDR-Politiker bereits vorher eingeleitet, für die meisten Betriebe bedeutet er eine Katastrophe. Ihre Produkte sind auf den Weltmärkten nicht konkurrenzfähig, sogar die bei ihnen Beschäftigten ziehen westliche Marken vor. Viele Firmen aus der Bundesrepublik und anderen kapitalistischen Staaten machen in der DDR glänzende Geschäfte. Die einheimischen Betriebe entlassen Mitarbeiter, 361 286 Arbeitslose werden Ende August registriert, Ende Dezember sind es schon 614 182. Für die DDR-Bürger ist das eine neue Erfahrung. Bis zur Wende gab es zwar Unterbeschäftigung durch einen unwirtschaftlich hohen Personalstand, sogenannte verdeckte Arbeitslosigkeit, aber es wurden ausreichend Jobs angeboten. Die Berufstätigen hatten 1989 einen Anteil von 54,1 Prozent an der Gesamtbevölkerung, die Erwerbsquote war eine der höchsten aller Staaten.

Auf dem 14. ordentlichen Bundeskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes vom 20. bis 26. Mai in Hamburg stellt sich der Vorsitzende Ernst Breit aus Altersgründen nicht zur Wiederwahl. Zu seinem Nachfolger wählen die Delegierten den Vorsitzenden der IG Bergbau und Energie, Heinz-Werner Meyer.

Am 22. Mai verabschiedet der DGB-Bundeskongreß eine Entschließung zur deutschen Einheit. Darin heißt es: "Freie und unabhängige Gewerkschaften sind eine Voraussetzung einer jeden demokratischen Gesellschaft. Der DGB und seine Gewerkschaften wirken daher am Aufbau einer freien und unabhängigen Gewerkschaftsbewegung in der DDR mit. Das Ziel ist, eine einheitliche deutsche Gewerkschaftsbewegung unter dem Dach des DGB zu schaffen. Nur so werden die Erwartungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an die gewerkschaftliche Schutz- und Gestaltungspolitik erfüllt, die im Zuge des deutsch-deutschen Einigungsprozesses notwendig ist.

Deshalb müssen in den nächsten Monaten die Hilfen des DGB und seiner Gewerkschaften zum Aufbau freier und unabhängiger Gewerkschaften in der DDR fortgesetzt und intensiviert werden. Dies erfordert die Unterstützung von Gewerkschaften und gewerkschaftlichen Initiativen, die

– sich um den Aufbau demokratischer Gewerkschaftsstrukturen von unten nach oben bemühen;

– parteipolitisch unabhängig sind, sich zum Prinzip der Einheitsgewerkschaft bekennen und die Beschäftigten unabhängig von ihrem politischen oder weltanschaulichen Positionen vertreten;

– für Tarifautonomie, das Streikrecht und das Aussperrungsverbot eintreten und

– sich für eine umfassende Mitbestimmung am Arbeitsplatz, in Betrieben und Verwaltungen, in Unternehmen und in der Gesamtwirtschaft einsetzen und hierzu in den Betrieben und Verwaltungen Betriebsräte fördern, die von den Belegschaften frei gewählt werden." Auszuschließen sei, "daß der DGB die formale Rechtsnachfolge und die inhaltliche Verantwortung für die Politik des FDGB nach dessen Auflösung übernimmt". Die Politiker werden durch die Entschließung aufgefordert, die deutsch-deutsche Vereinigung mit der Perspektive einer europäischen Friedensordnung zu betreiben und die Wirtschafts- und Währungsunion durch eine Sozialunion zu ergänzen. Für die künftige gesamtdeutsche Arbeits- und Sozialordnung seien folgende Elemente unverzichtbar: Recht auf Arbeit, Koalitionsfreiheit und Koalitionsrechte, Umweltschutz als Staatsziel, Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Mitbestimmung, Ausbau der Arbeitnehmerrechte, gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitsstätten und Arbeitszeiten, soziale Sicherheit, Recht auf Wohnen, Recht auf Bildung und Berufsbildung, gleichwertige Lebensbedingungen für die Menschen in allen Regionen.

Der DGB-Bundeskongreß plädiert mit einem Beschluß vom 24. Mai dafür, "die Verfassung des vereinigten Deutschlands in einem Volksentscheid zur Abstimmung zu stellen. ... Das Volk muß am Prozeß der Vereinigung, an der Beendigung der Teilung unmittelbar beteiligt werden."

"Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten darf nicht zu Lasten der Frauen gehen", beschließt der DGB-Bundeskongreß am 24. Mai. Die Delegierten meinen, einige familienpolitische Leistungen der DDR sollten erhalten und verbessert werden, zum Beispiel der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz und das flächendeckende Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen. Die Gewerkschafter wissen, was die weiblichen Beschäftigten befürchten müssen: "Die derzeit hohe Frauenerwerbsquote in der DDR darf nicht durch eine hohe Frauenarbeitslosigkeit abgelöst werden." Sie fordern Gegenmaßnahmen – vergeblich. Die Frauen gelten bald als Verliererinnen der Einheit.

"Nicht kleinkariertes Besitzstandsdenken treibt viele Menschen um, sondern die berechtigte Sorge, daß ungleiche und ungerechte Macht- und Besitzverhältnisse zu einer ungerechten Verteilung der Kosten der Einheit führen, daß wenige profitieren, aber viele bezahlen müssen!" Der DGB-Vorsitzende Ernst Breit auf dem DGB-Bundeskongreß.

"Ich will ... denjenigen, die angesichts der Umbruchsituation in der DDR und in Osteuropa vom Sieg der Marktwirtschaft reden, deutlich sagen: Die Marktwirtschaft als Alternative zur Kommandowirtschaft erhält ihre Attraktivität für die Menschen der DDR und Osteuropas nicht nur durch ihre höhere Effektivität, sondern vor allem auch aufgrund der Erfolge gewerkschaftlicher Politik. Was hat also wirklich gesiegt? Die Planwirtschaft als Gegenentwurf zur Marktwirtschaft ist tot, aber der Sozialstaat als Gegenentwurf zur ungebremsten Ellenbogengesellschaft, der muß ausgebaut werden." Der DGB-Vorsitzende Ernst Breit auf dem DGB-Bundeskongreß.

"Die Herstellung der deutschen Einheit war immer eine Zielsetzung auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner Gewerkschaften. Aber: Sie stand bisher auch immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Notwendigkeiten der Entspannungspolitik, das heißt der Politik des Gesprächs und des Ausgleichs, des Abbaus von Feindbildern – und nicht des Verwischens und Verdeckens der Gegensätze unterschiedlicher Gesellschaftssysteme.

Miteinander reden, Gegensätze offen austragen, Feindbilder abtragen helfen – dies bildete auch die Grundlage unseres Verhältnisses zum FDGB. Wir haben diese Kontakte immer auch als eine notwendige Rahmenbedingung angesehen, damit die Menschen beider deutscher Staaten einander näherkommen, damit humane Lösungen die Unmenschlichkeit der deutschen Teilung mildern." Der DGB-Vorsitzende Ernst Breit auf dem DGB-Bundeskongreß.

"Ziel unserer Gewerkschaftspolitik, die auf ganz Deutschland gerichtet ist, muß von Anfang an sein, Lösungen und keine Notlösungen zu schaffen. Jedes Kooperations- und Investitionsvorhaben kann mit mehr oder mit weniger Arbeitsplatzverlusten, mit mehr oder mit weniger zukunftsträchtigen Technologien, mit mehr oder mit weniger hohen Umweltstandards realisiert werden. Wir müssen eine soziale und ökologische Gestaltung der wirtschaftlichen Erneuerung fordern, und das von Anfang an. Wir wollen keine Kahlschlagsanierungen, die alles platt machen, keine Auslaufmodelle, die bei uns nicht mehr gehen, und kein Umweltdumping!

Für uns ist die wirtschaftliche Erneuerung kein Selbstzweck. Ihr oberstes Ziel ist die stetige Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Arbeitnehmer in der DDR." Der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer auf dem DGB-Bundeskongreß.

"Der FDGB ist keine Gewerkschaft. Er war immer die Massenorganisation der herrschenden SED und ihr Erfüllungsgehilfe in den Betrieben. Der zentralistische FDGB hat die Interessen der Arbeitnehmer nicht vertreten, sondern er hat die Politik der SED oft genug gegen die Interessen und auch gegen den Willen der Arbeitnehmer durchgesetzt. Das ist nicht nur ein Makel, das ist ein Strukturfehler, der nicht zu korrigieren ist. ... Er hat nicht das Vertrauen der Arbeitnehmer, und er bekommt es auch nicht. Der FDGB ist eine große Belastung für den demokratischen Neuanfang der Gewerkschaften. Das haben nun auch alle Gewerkschaften in der DDR erkannt und daraus die Konsequenz gezogen: Der FDGB muß aufgelöst werden." Der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer auf dem DGB-Bundeskongreß.

Bei einem Zusammentreffen von Vertretern der DGB-Jugend des Landesbezirks Berlin mit KollegInnen aus dem Osten wird am 26. und 27. Mai in der geteilten Stadt der Jugendregionalausschuß Berlin-Brandenburg gegründet.

Der Geschäftsführende Bundesvorstand des DGB beschließt am 11. Juni "Schritte zur Wahrnehmung von Aufgaben des Gewerkschaftsbundes im geeinten Deutschland", unter anderem ist die Einrichtung von Regionalbüros in der DDR geplant.

Ein Konzept zur Beschäftigungssicherung und Strukturentwicklung in der DDR veröffentlicht der DGB-Bundesvorstand am 20. Juni. Mehrfach macht der DGB konkrete Vorschläge, um die Interessen der ost- und westdeutschen Arbeitnehmer im Einigungsprozeß zu wahren. Dazu gehören auch Empfehlungen, wie das volkseigene Vermögen in der DDR zugunsten großer Teile der Bevölkerung privatisiert werden könnte. Diese werden am 11. Juli dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vorgelegt. Am 20. Juli präsentiert der DGB-Bundesvorstand sozialpolitische Forderungen für den deutschen Einigungsprozeß. Mit einer Vielzahl von Dokumenten wird bei den Politikern für gewerkschaftliche Positionen geworben.

Der DGB wird gerufen – und er kommt. Schon kurz nach dem Fall der Mauer baten DDR-Bürger die bundesdeutsche Gewerkschaftsbewegung um Hilfe bei der Schaffung von unabhängigen Arbeitnehmerorganisationen, bei der Bewältigung des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft. Zum FDGB haben die Beschäftigten kein Vertrauen, sie hoffen auf das Engagement des DGB und seiner Gewerkschaften. Am 15. Juli eröffnet der Bundesvorstand in Ost-Berlin eine Außenstelle, die den Aufbau von DGB-Kreisen und Landesbezirken vorbereitet und begleitet. Gleichzeitig wird ein Pressebüro eingerichtet. Es beliefert die Medien der DDR mit Informationen über den DGB und seine Gewerkschaften und mit Fakten über die soziale und wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern. Auch nach der deutsch-deutschen Vereinigung bleibt der Medienmarkt geteilt. Das Pressebüro befriedigt gezielt die besonderen Interessen der ostdeutschen Medien und Konsumenten. Außerdem bietet es den Gewerkschaftern in Ostdeutschland Lehrgänge über Pressearbeit an.

Die Regierungskoalition unter Lothar de Maizière zerbricht. Am 24. Juli beschließt die Volkskammerfraktion des Bundes Freier Demokraten den Austritt, am 19. August fällt die SPD-Fraktion die gleiche Entscheidung.

Der DGB-Bundesvorstand und der Sprecherrat der Gewerkschaften und Industriegewerkschaften der DDR veröffentlichen am 27. Juli ihre "Anforderungen an den angestrebten Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik". Am 20. August geben sie eine Stellungnahme zum Vertragsentwurf ab.

In Halle eröffnet der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer am 2. August ein DGB-Hauptbüro. Es wird von Dr. Jürgen Weißbach geleitet.

Am 31. August unterzeichnen Vertreter der beiden deutschen Staaten den "Einigungsvertrag", der den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik regelt und Übergangsbestimmungen zur Angleichung des östlichen an das westliche System enthält.

Ab dem 1. September beginnt Hildegard Othersen mit dem Aufbau des DGB-Hauptbüros in Chemnitz.

Der DGB und seine Gewerkschaften erheben Anspruch auf das Vermögen ihrer Vorläuferorganisationen im Gebiet der ehemaligen DDR. Das entscheidet der Bundesvorstand am 4. September. Das Unrecht, das den Gewerkschaften vom Nationalsozialismus zugefügt worden sei, müsse rückgängig gemacht werden. Vermögen der DDR-Gewerkschaften, "die seit 1945 aus Mitgliedsbeiträgen erworben wurden", dürften ihnen nicht entzogen werden. Bis zur endgültigen Klärung der Eigentumsverhältnisse müßten diese Werte entgegen den Regelungen im Einigungsvertrag bei den Besitzern verbleiben.

Am 10. September eröffnet der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer das von Peter Deutschland geleitete DGB-Hauptbüro in Schwerin, am Tag darauf das Hauptbüro in Erfurt mit Karl-Heinz Jungmann an der Spitze.

Auf einem außerordentlichen Kongreß des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes in Ost-Berlin beschließen die Delegierten am 14. September die Auflösung der Dachorganisation.

Der Geschäftsführende Bundesvorstand des DGB entscheidet am 17. September, zusätzlich zu den fünf Haupt- und neun Regionalbüros neunzehn Beratungsbüros einzurichten.

Der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer und der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Klaus Murmann, präsentieren am 18. September auf einer Pressekonferenz in Bonn eine gemeinsame Erklärung beider Organisationen mit dem Titel "Für mehr Beschäftigung in der DDR". Sie fordern staatliche Programme für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Bei den Maßnahmen zur Qualifizierung der DDR-Arbeitnehmer ist eine enge Zusammenarbeit geplant.

Auf einem Symposium des Deutschen Gewerkschaftsbundes verlangt der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer am 19. September in Düsseldorf eine neue, vom Volk gebilligte Verfassung. Sie solle Volksbegehren und Volksentscheid zulassen, ein Recht auf Arbeit und die staatliche Verpflichtung zum Umweltschutz festschreiben sowie Ausländern das kommunale Wahlrecht gewähren.

Am 24. September verläßt die DDR den Warschauer Pakt.

Die schnelle staatliche Vereinigung nach der Öffnung der Grenzen gibt den Arbeitnehmervertretungen das Tempo vor. Im erneuerten Deutschland soll es keine geteilte Gewerkschaftsbewegung geben. Schon ab dem 1. Oktober sind die Organisationsgebiete der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft und der Industriegewerkschaft Medien auf Ostdeutschland ausgeweitet, im Einverständnis mit den DDR-Pendants, die seit diesem Datum nicht mehr bestehen. Wenige Monate später haben alle DGB-Verbände ihren Zuständigkeitsbereich erweitert, haben die reformierten ehemaligen FDGB-Organisationen und die neugegründeten Gewerkschaften sich aufgelöst, ist die Einheit erreicht. In der knappen Frist von der unblutigen Revolution bis zur deutsch-deutschen Vereinigung war die Entwicklung parteipolitisch unabhängiger Arbeitnehmervertretungen in der DDR und ihre Konsolidierung unter den ungewohnten Bedingungen der Marktwirtschaft nicht möglich. FDGB-GewerkschafterInnen stießen in der Bevölkerung auf Mißtrauen und ihnen, wie auch den neuen Funktionären, fehlte die Erfahrung mit dem Wirtschaftssystem der Bundesrepublik. Sie erwarteten Unterstützung von den westdeutschen KollegInnen, und im Interesse der Beschäftigten und bald der vielen Arbeitslosen in der DDR waren der DGB und seine Gewerkschaften bereit, ihre organisatorische Stärke und ihre Sachkenntnis auch im Osten gegenüber den Arbeitgebern und den Politikern in die Waagschale zu werfen. Viele ihrer Funktionäre leisteten Aufbauhilfe – für eine Übergangszeit; die innere Einheit der deutschen Gewerkschaften ist gewonnen, wenn die Organisationen im Osten auf diese Hilfe verzichten können.

Als Mahnung für die Zukunft beschließt der DGB-Bundesausschuß am 2. Oktober in West-Berlin den Aufruf "Das vereinigte Deutschland sozial gestalten".

Nach über vier Jahrzehnten der Teilung sind Ost- und Westdeutschland seit dem 3. Oktober wieder vereinigt. Die Deutsche Demokratische Republik mit einer Fläche von 108 333 Quadratkilometern und 16,11 Millionen Einwohnern tritt an diesem Tag der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes bei. 356 945 Quadratkilometer umfaßt der vergrößerte Staat, 79,67 Millionen Einwohner ermitteln die amtlichen Statistiker.

Die Bundesregierung beruft am 5. Oktober den Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Chemie–Papier–Keramik, Hermann Rappe, als DGB-Vertreter in den Verwaltungsrat der Treuhandanstalt. Auf Initiative des Runden Tischen wurde diese Institution bereits am 1. März 1990 gegründet. Nach den Vorgaben des von der Volkskammer der DDR verabschiedeten Treuhandgesetzes sollte sie die unternehmerische Tätigkeit des Staates zurückdrängen. Die Anstalt wurde Eigentümer von mehreren tausend volkseigenen Betrieben, die sie fit machen sollte für den Wettbewerb in der Marktwirtschaft. Das erweist sich als unerwartet schwierig. Nach der Währungsunion sind viele Unternehmen der Konkurrenz aus anderen Ländern nicht gewachsen. Im In- und Ausland verschmähen die Käufer ihre Produkte. Vor allem durch schnelle Privatisierungen versuchen die Treuhandmanager Firmen zu retten, und sie lassen auch Sanierungskonzepte entwickeln und umsetzen, aber viele Unternehmen und Betriebsteile werden liquidiert. Über vier Millionen Beschäftigte gehören ursprünglich zum Treuhand-Reich, ungefähr 50 Prozent aller Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern. Hunderttausende Ostdeutsche verlieren nun ihre Arbeitsplätze. Kritiker werfen der Treuhandanstalt übereilte Stillegungen zu, diese kontert mit dem Hinweis auf die angehäuften Schulden. In wenigen Jahren muß die Anstalt ihre Aufgaben erledigen, die Eile begünstigt Pannen, zudem fallen etliche Treuhandmanager unangenehm durch ihre Selbstbedienungsmentalität oder Unfähigkeit auf. In der ostdeutschen Öffentlichkeit hat die Treuhandanstalt einen schlechten Ruf. Die Gewerkschaften haben nur wenig Einfluß auf die Arbeit dieser Institution, im Vorstand sind sie nicht vertreten.

In den fünf neuen Bundesländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und in Bayern entscheiden die Bürger am 14. Oktober über die Zusammensetzung der Landtage. In Sachsen gewinnt die CDU die absolute Mehrheit, in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen wird sie stärkste Partei und stellt in Koalitionen die Ministerpräsidenten. Die SPD besetzt in Brandenburg den ersten Platz, dort wird ein Sozialdemokrat Regierungschef. In Bayern verteidigt die CSU trotz leichter Verluste ihre absolute Mehrheit.

Im Alter von 72 Jahren stirbt der ehemalige DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter am 18. Oktober in Mülheim.

Für den Neuanfang in der DDR muß der DGB sein Personal kräftig aufstocken. Vor allem für den Rechtsschutz in den neuen Ländern. Die Unerfahrenheit der Ostdeutschen mit dem bundesdeutschen Rechtssystem und die schlechte wirtschaftliche Situation mit Massenentlassungen und anderen negativen Konsequenzen bewirken einen starken Bedarf an kompetenter Beratung und Vertretung durch die DGB-Leute. Im Oktober sind bereits 60 Planstellen für Rechtssekretäre beschlossen, Anfang 1991 wird die Zahl auf 110 erhöht und sie steigt weiter auf 150 im Frühjahr 1993, einige kommen später noch dazu. Die Belastung der Rechtssekretäre und ihrer Mitarbeiter ist trotz dieser Aufstockungen extrem. Moderne Technik in ihren Büros soll ihnen die Arbeit erleichtern. Um den Rechtssekretären in Ostdeutschland gezielt Grundlagenwissen für die Praxis zu vermitteln bietet der DGB ab 1991 ein besonderes Weiterbildungsprogramm.

"Strukturpolitische Forderungen für die ostdeutschen Bundesländer" präsentiert der DGB am 5. November 1990.

Vom 25. bis zum 28. November streiken die Reichsbahner, vor allem für die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze. Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands erreicht in den Verhandlungen mit der Deutschen Reichsbahn, daß bis zum 31. Mai 1991 kein Beschäftigter wegen Rationalisierung entlassen wird.

Wegen "dringenden Tatverdachts des gemeinschaftlich begangenen Totschlags in mehreren Fällen" erläßt das Amtsgericht Berlin-Tiergarten am 30. November Haftbefehl gegen den ehemaligen SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Der befindet sich im Militärhospital Beelitz unter der Obhut der Sowjets, die sich weigern, ihn der Justiz auszuliefern.

Der Gewerkschaftsjugend im Osten fehlt Geld für effektive Arbeit. Die ehrenamtlichen Funktionäre sind überlastet, ein Arbeitsplatz kann nicht eingerichtet werden. Im Dezember wird deshalb vom DGB-Bundesvorstand in Ost-Berlin eine "Kontaktstelle" der Abteilung Jugend eröffnet. Auf Wunsch der jungen Ost-KollegInnen kümmert sich dort Andrew Walde um ihre Probleme; er hat vorher beim Landesbezirk gearbeitet und sich in seiner Freizeit schon als Aufbauhelfer bewährt. Im Januar 1991 wird zusätzlich die Ostdeutsche Maja Klingner als Mitarbeiterin eingestellt. Die Kontaktstelle existiert – später mit anderer Besetzung – noch bis Ende Juni 1992, dann firmiert das Büro als "Außenstelle Berlin" der Abteilung Jugend.

Am 2. Dezember wird der Deutsche Bundestag gewählt. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel gilt getrennt für die alten und die neuen Bundesländer, ebenso für West- und Ost-Berlin. CDU und CSU erhalten 43,8 Prozent der Stimmen. Die SPD kommt mit ihrem Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine auf 33,5 Prozent. Die FDP überzeugt 11 Prozent der Wähler. Bei den Grünen machen im Westen nur 4,8 Prozent ihr Kreuz, sie sind deshalb im neugewählten Parlament nicht vertreten. Ihr ostdeutsches Pendant Bündnis 90/Grüne erreicht in den neuen Bundesländern und Ost-Berlin 6 Prozent der Stimmen. Die PDS bringt dort 11,1 Prozent der Wähler hinter sich. CDU/CSU und FDP können wieder eine Koalitionsregierung bilden. Helmut Kohl bleibt Bundeskanzler.

Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, das am 2. Dezember erstmals seit 1946 wieder von den Bürgern der gesamten Stadt gewählt wird, baut die CDU ihre Position als stärkste Partei etwas aus. Mit der SPD schließt sie sich zur Großen Koalition zusammen.

Der DGB-Bundesvorstand beschließt am 4. Dezember die Gründung von Landesbezirken in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie die Ausweitung des DGB-Landesbezirks Berlin auf den Ostteil der Stadt und auf Brandenburg. Bis zur satzungsgemäßen Konstituierung sollen an den Sitzen der Landesregierungen "beauftragte Sekretäre" eingesetzt und Übergangsvorstände gebildet werden.

Die Tarifexperten der DGB-Gewerkschaften können in Ostdeutschland erste Erfolge verbuchen. Mit ihrer Unterstützung konzentrieren sich die Arbeitnehmerorganisationen der DDR auf die Durchsetzung von Rationalisierungsschutzabkommen und Regelungen zur Qualifizierung, auf die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit, die Sicherung der Realeinkommen und erste Schritte zur Angleichung an die Einkommen in Westdeutschland. Auch nach der Vereinigung haben diese Ziele für die DGB-Gewerkschaften Priorität.

Am Jahresende beziffert der DGB den Mitgliederstand seiner Gewerkschaften in den alten Bundesländern auf gut 7,9 Millionen. Für das ehemalige DDR-Gebiet können die Mitgliederzahlen nur geschätzt werden: Ungefähr 3,6 Millionen Beschäftigte sollen dort einen Aufnahmeantrag gestellt haben oder bereits Mitglieder sein. Der Organisationsgrad ist im Osten höher als im Westen.

Astrid Brand, 1996
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