Deutschland - einig Gewerkschaftsland

Chronik über den Aufbau des DGB im Osten

Teil I - 1989

Die Revolution beginnt in der sommerlichen Ferienzeit. "Reisefreiheit" fordern immer mehr Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, und was der Staat freiwillig nicht gewähren will, versuchen nun viele zu erzwingen. Hunderte besetzen diplomatische Vertretungen der Bundesrepublik in Ost-Berlin und in den sozialistischen Nachbarstaaten und erreichen auf diesem Umweg die Übersiedlung in den Westen, in Scharen fliehen Ostdeutsche über die ungarisch-österreichische Grenze, am 11. September öffnen die Ungarn dort die Schlagbäume.

Unter den Daheimgebliebenen formiert sich derweil der Widerstand gegen das diktatorische Regime der DDR. Eine Welle von Protestkundgebungen mit Tausenden von Teilnehmern macht den Unmut in der DDR-Bevölkerung öffentlich. Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit verlangen die Demonstranten vor allem. Die Oppositionsgruppen Neues Forum und Demokratischer Aufbruch entstehen, am 7. Oktober wird die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) konstituiert.

Zur gleichen Zeit wird das 40jährige Bestehen der DDR gefeiert, ihr Gründungsdatum ist der 7. Oktober 1949. Zu den Gästen gehört auch der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow, der Reformen anmahnt. Sein vielzitierter Satz "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" wird sich für seinen Gesprächspartner Erich Honecker, das Staatsoberhaupt der DDR, bald erfüllen. Großdemonstrationen in mehreren ostdeutschen Städten setzen die alte Elite unter Druck. Einige Kundgebungen werden gewaltsam aufgelöst, über 1000 Teilnehmer inhaftiert. Doch die Bürgerbewegung läßt sich dadurch nicht mehr stoppen. Leipzig mit seinen "Montagsdemonstrationen" wird zu einem Zentrum der Opposition. "Wir sind das Volk!" skandieren dort am 16. Oktober über 100 000 Menschen. Zwei Tage später wird Erich Honecker gestürzt, die Mehrheit im Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nötigt ihn zum Rücktritt von seinen Ämtern in der Partei und im Staat.

Einstimmig wählt das SED-Zentralkomitee am 18. Oktober das Politbüromitglied Egon Krenz zum Generalsekretär des ZK der SED, am 24. des Monats beruft ihn die DDR-Volkskammer zum Staatsratsvorsitzenden und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, Krenz übernimmt alle Funktionen von Honecker. Die Bevölkerung verspricht sich offenbar wenig von diesem Wechsel in der Führung. Weiterhin werden auf Massenkundgebungen grundsätzliche Reformen gefordert.

Die Revolution erfaßt auch die Arbeitnehmerorganisationen in der DDR: Der Vorsitzende des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Harry Tisch, legt am 2. November sein Amt nieder. Nachfolgerin wird Annelis Kimmel. Sie tritt ein schweres Erbe an, der FDGB mit seinen unselbständigen Gewerkschaften ist für die kommenden Zeiten schlecht gerüstet. Seine enge Verflechtung mit dem zusammenbrechenden System erweist sich nun als verhängnisvoll. Er hat sich zum Transmissionsriemen der SED machen lassen, unterstützte die Partei, ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen umzusetzen. Mehr und mehr wandelten sich der FDGB und seine Gewerkschaften von Organisationen, die die Interessen der Arbeitnehmerbasis vertreten, zu Handlangern der DDR-Regierungen. Die traditionelle Lohntarifpolitik, etwa, gaben sie auf, die Löhne wurden in der DDR weitgehend staatlich festgelegt. Die Umkehrung ihrer Tätigkeiten ging sogar so weit, daß sie, statt für niedrige Akkordsätze zu kämpfen, deren Erhöhung propagierten. Auf der anderen Seite erhielt die Gewerkschaftsbewegung in der DDR Funktionen, die in der Bundesrepublik Deutschland Selbstverwaltungskörperschaften oder der Staat erfüllten. So wurde beispielsweise die Sozialversicherung vom FDGB geleitet. Die Beteiligung des FDGB in vielen staatlichen Gremien war institutionell verankert und die personelle Verflechtung zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der SED stark ausgeprägt. Seit 1953 gehörten die FDGB-Vorsitzenden dem Politbüro an, dem höchsten Machtgremium der Partei. In der DDR wurde gewitzelt: Die Partei ist der Vater, der sagt, wo es lang geht. Der Staat ist die Mutter, die alles ausführt. Und der FDGB ist die Großmutter, die ständig dazwischenredet, auf die aber niemand hört.

In Ost-Berlin demonstrieren am 4. November ungefähr eine Million Menschen für Presse-, Meinungs- und Koalitionsfreiheit sowie für freie Wahlen. Auch zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften wird aufgerufen. Das Fernsehen der DDR überträgt die Veranstaltung.

Am 6. November wird in der DDR-Presse der Entwurf eines neuen Reisegesetzes veröffentlicht, wonach die Bürger einen Anspruch auf Auslandsaufenthalte haben sollen. Das geplante bürokratische Genehmigungsverfahren wirkt abschreckend. Auf Demonstrationen wird ein Reisegesetz ohne Einschränkungen verlangt. Die Medien der DDR berichten über die Kritik an dem Entwurf, der am Tag darauf vom Verfassungs- und Rechtsausschuß der DDR-Volkskammer als unzureichend abgelehnt wird.

Die DDR-Regierung unter Willi Stoph tritt am 7. November zurück. Einen Tag später, bei der zehnten Tagung des ZK der SED in Ost-Berlin, vollzieht das Politbüro den gleichen Schritt. Dem neuen Politbüro gehört auch der zum Reformflügel gerechnete Hans Modrow an. Er wird am 13. November als Nachfolger von Stoph zum Ministerratsvorsitzenden gewählt.

Am 9. November, um 18.57 Uhr, informiert das Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer von Fernsehen und Rundfunk live übertragenen Pressekonferenz über einen Beschluß zur künftigen Reiseregelung. Am nächsten Tag, einem Freitag, ab 8 Uhr, könne sich jeder ein Visum abholen. Viele DDR-Bürger wollen nicht mehr so lange warten. Zehntausende Ostberliner strömen noch am Abend zur Grenze, der Weg nach drüben wird ihnen schließlich freigegeben. Die Mauer hält die Drängelnden nicht mehr auf. Auf der anderen Seite empfangen die Menschen sie begeistert, in der geteilten Stadt wird die neue Freiheit spontan bejubelt. Am Wochenende reisen mehrere Millionen DDR-Bürger Richtung Bundesrepublik und West-Berlin, bis zu 60 km lang sind die "Trabi"-Kolonnen vor den Grenzübergängen.

Die Volkskammer beschließt am 17. November die Bildung einer Kommission, die Änderungen der DDR-Verfassung beraten soll; ein Ausschuß soll ein neues Wahlgesetz erarbeiten.

Die Bürgerrechtsbewegung Neues Forum beeinflußt den Reformprozeß des FDGB sehr stark. Zu diesem Ergebnis gelangt die Abteilung Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Düsseldorf am 17. November nach einer Analyse der gewerkschaftlichen Situation in der DDR.

Seit dem 24. November dürfen die DDR-Bürger auch ohne Visum in jedes andere Land reisen.

Bei den Leipziger Montagsdemonstrationen ist seit dem 27. November die Forderung nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland nicht zu überhören und nicht zu übersehen. "Wir sind ein Volk!" heißt es.

Der bundesdeutsche Regierungschef Dr. Helmut Kohl legt dem Bundestag in Bonn am 28. November ein Zehn-Punkte-Programm zur Deutschlandpolitik vor. Es sieht "konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland" vor. Endziel ist die "Wiedergewinnung der staatlichen Einheit".

Egon Krenz und Hans Modrow stellen sich am 29. November hinter den Aufruf "Für unser Land". Initiatoren des Appells, der für die Bewahrung der "Eigenständigkeit der DDR" plädiert und am Vortag in Ost-Berlin bekannt gemacht wurde, sind Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, Vertreter der Evangelischen Kirche und Oppositionsgruppen.

Am 1. Dezember streicht die Volkskammer den Passus über den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung.

SED-Chef Krenz legt am 3. Dezember seine Parteiämter nieder, die übrigen Politbüromitglieder sowie die "Genossen" des Zentralkomitees der SED treten ebenfalls zurück. Drei Tage später gibt Krenz auch die Positionen des Vorsitzenden von Staatsrat und Nationalem Verteidigungsrat auf.

Viele ostdeutsche Jugendliche sagen sich los von der Staatsorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ), die für die Kinder und Teenager in allen gesellschaftlichen Bereichen zuständig ist. Nach der Maueröffnung suchen sie Rat und Hilfe beim DGB und seinen Gewerkschaften. Als vom 3. bis zum 5. Dezember in West-Berlin die Bundesjugendkonferenz des DGB tagt, sind als Gäste auch Jugendliche aus der DDR dabei. Eine klares Konzept für die gewerkschaftliche Jugendarbeit fehlt ihnen noch. Hauptamtliche FDGB-Kader gehören zu ihnen, die ihren Verband reformieren wollen, andere setzen sich für neue unabhängige Organisationen ein, statt der Einbindung der jungen Erwerbstätigen in den FDGB oder die Gewerkschaften fordern manche eine Jugendgewerkschaft. Die DGB-Jugend bietet Unterstützung ohne Bevormundung, vor allem Westberliner Gewerkschafter stehen als Ansprechpartner zur Verfügung, fast täglich kommt es zu Ost-West-Begegnungen.

Nach polnischen und ungarischen Vorbildern tagt am 7. Dezember in Ost-Berlin zum erstenmal der "Runde Tisch". Auf Einladung der Kirchen treffen sich Vertreter der ehemals im sogenannten Demokratischen Block vereinigten Parteien und anderer alter DDR-Organisationen mit Repräsentanten von Oppositionsgruppen. Die Mehrheit empfiehlt freie Volkskammerwahlen am 6. Mai 1990.

Auf dem vorgezogenen Parteitag der SED in der Hauptstadt wird am 9. Dezember der Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi zum neuen Vorsitzenden gewählt. Statt von einem ZK und einem Politbüro soll die SED in Zukunft von einem Präsidium und einem Vorstand geleitet werden. Als der Parteitag nach einer Unterbrechung am nächsten Wochenende fortgesetzt wird, entscheiden sich die Delegierten für eine Ergänzung des Parteinamens: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands – Partei des demokratischen Sozialismus (SED-PDS) heißt es fortan.

Die Mitglieder des FDGB-Bundesvorstandes mit Annelis Kimmel an der Spitze beschließen am 9. Dezember in Ost-Berlin ihren Rücktritt und die Auflösung des führenden "Arbeitssekretariats". Ein neugebildetes Komitee übernimmt bis zum geplanten außerordentlichen Gewerkschaftskongreß die Leitung der Organisation. Am folgenden Tag verabschiedet dieses Gremium eine "Erklärung für eine grundlegende Erneuerung des FDGB als Gewerkschaftsbund freier und unabhängiger Industriegewerkschaften und Gewerkschaften in der DDR".

Als erste der Oppositionsgruppen in der DDR konstituiert sich der Demokratische Aufbruch am 16. Dezember als Partei.

Das Brandenburger Tor an der Trennlinie zwischen Ost- und West-Berlin wird nach 28 Jahren am 22. Dezember wieder geöffnet. Zehntausende wollen diesen symbolischen Akt miterleben.

Seit dem 24. Dezember können Bürger der Bundesrepublik ohne Visum und Zwangsumtausch in die DDR reisen.

Westdeutschland wird mit einem Strom von Übersiedlern konfrontiert. 343 854 Neubürger kommen 1989 aus der DDR. Weil leerstehende Wohnungen fehlen, werden sie sogar auf Schiffen untergebracht.

Astrid Brand, 1996
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