Das Grundgesetz war als Übergangslösung geplant

Gewerkschafter hatten kaum Einfluss auf die Regelungen

Nur wenige Jahre sollte das Grundgesetz alt werden. Das erhofften seine Mütter und Väter. Als im befreiten Deutschland über eine Verfassung für die drei Westzonen beraten wurde, wollten die Beteiligten wegen der Teilung des Staatsgebietes nichts schaffen, was den Anspruch von Dauerhaftigkeit erhob. Und weil der Name "Verfassung" so untrennbar mit dem "Vollstaat" verbunden schien, nannte man das am 23. Mai 1949 verkündete Regelwerk schlicht "Grundgesetz". Nur wenige Forderungen der Gewerkschaften sind darin berücksichtigt.

Während der etliche Monate dauernden Beratungen über die neue Verfassung wurden die von den Arbeitnehmerorganisationen vertretenen Interessen eher stiefmütterlich behandelt. Welche Probleme im Mittelpunkt standen, hatten vor allem die USA, Großbritannien und Frankreich vorgegeben. Die Kriegsallianz mit der Sowjetunion war im Frühjahr 1948 zerbrochen, die drei Westalliierten verständigten sich auf eine gemeinsame Deutschlandpolitik. In London beschlossen die drei und die Benelux-Staaten im Juni 1948 Leitlinien für die Entwicklung Westdeutschlands. Die Sechs-Mächte-Konferenz markierte im Schlußkommuniqué den Rahmen der geplanten Konstitution: "Diese Verfassung soll so beschaffen sein, daß sie es den Deutschen ermöglicht, ihren Teil dazu beizutragen, die augenblickliche Teilung Deutschlands wieder aufzuheben, allerdings nicht durch die Wiedererrichtung eines zentralistischen Reiches, sondern mittels einer föderativen Regierungsform, die die Rechte der einzelnen Staaten angemessen schützt und gleichzeitig eine angemessene zentrale Gewalt vorsieht und die Rechte und Freiheiten des Individuums garantiert." Die Grundlinien der Londoner Empfehlungen erhielten die Regierungschef der deutschen Länder am 1. Juli 1948 als die drei "Frankfurter Dokumente". Das erste befaßte sich mit den Vorgaben für die Verfassung, das zweite mit der Neugliederung der Länder und das dritte enthielt die Grundzüge eines Besatzungsstatuts.

Am 1. September 1948 wurde in Bonn der "Parlamentarische Rat" mit einem Festakt eröffnet. Seine 65 Abgeordneten waren von den Landtagen gewählt worden. Die Unionsparteien und die SPD stellten jeweils 27 Mitglieder, die Liberalen verfügten über fünf Sitze, je zwei Mandate hatten die Deutsche Partei, das Zentrum und die KPD.

Gestritten wurde in diesem Gremium vor allem um die Stellung des Staatsoberhauptes, die Form der Länderkammer, die Verteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern, die Organisation der Finanzverwaltung, das Verhältnis von Staat und Kirche sowie das Elternrecht. Die Probleme der Sozialordnung, das traditionelle Aufgabenfeld der Arbeitnehmerorganisationen, standen kaum zur Diskussion. Behindert in ihrer Interessenvertretung wurden die Gewerkschaften durch ihre Zersplitterung. Eine einheitliche Dachorganisation für die drei westlichen Zonen existierte noch nicht. Einflußreiche Gewerkschafter gab es nicht im Parlamentarischen Rat, und die Sozialdemokraten, die sich in alter Verbundenheit hätten engagieren können, hielten sich zurück. Es war besonders die SPD, die den provisorischen Charakter des "Grundgesetzes" betonte. Sie setzte auf die spätere Gesetzgebung zur Verwirklichung ihrer sozialpolitischen Ziele. Und so wurden die Wünsche der Gewerkschaften nach der Verankerung ihres Programms der Wirtschaftsdemokratie nicht einmal in Ansätzen verwirklicht. Nur mit der Forderung einer selbständigen Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit setzten sie sich voll durch. Dieses Verlangen hatte Hans Böckler, der Sprecher des Gewerkschaftsrates der vereinigten Westzonen und spätere Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, als Teil einer langen Liste mit Vorschlägen dem Parlamentarischen Rat übermittelt.

Erfolgreich vertraten die Beamtenorganisationen die Interessen ihrer Mitglieder. Ihr Vorteil: Im Parlamentarischen Rat waren 61 Prozent der Abgeordneten (ehemalige) Beamte, Richter oder Hochschullehrer.

Konkret regelt das Grundgesetz den sozialen Bereich nicht, aber einen reinen Nachtwächterstaat, der nur die individuellen Freiheitsrechte schützt, begründete es trotzdem nicht. In Artikel 20 heißt es: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." Dadurch erhält der Staat ausdrücklich die Zuständigkeit für die Gestaltung der Sozialordnung.

Fehlende Regelungen im Grundgesetz können unter Umständen auch ein Vorteil sein. Die Aufnahme des Streikrechts in den Katalog der Grundrechte lehnte der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats ab. Der Grund war nicht eine mangelnde Anerkennung dieses Rechtes, sondern das Problem, wie das Streikrecht hätte beschränkt werden müssen, um wilde politische und tarifwidrige Streiks zu verhindern.

Am 8. Mai 1949 stimmten im Parlamentarischen Rat 53 Abgeordnete für das Grundgesetz, sechs von acht Mandatsträgern der CSU, die Vertreter des Zentrums und der Deutschen Partei sowie die Kommunisten votierten dagegen. In der Woche vom 16. bis zum 22. Mai billigten die Landtage von zehn Ländern das Grundgesetz. Bayern lehnte die Ratifizierung ab, es hatte vergeblich noch mehr föderalistische Elemente in der neuen Verfassung gewünscht.

Deutschland ist wieder ungeteilt, die Besatzung aufgehoben, das Provisorium hat sich trotz einiger Mängel bewährt und wurde beibehalten. Änderungen des Grundgesetzes sind oftmals hart umkämpfte Entscheidungen. So war es zuletzt bei der Einführung des sogenannten großen Lauschangriffs: Unter bestimmten Bedingungen sollte zur Bekämpfung der Kriminalität die elektronische Überwachung von Wohnungen möglich sein. Dafür wurde vom Bundestag mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit Artikel 13 geändert.

Astrid Brand, 1999
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