"Heiß Ersehntes" entstand in Bielefeld

Streit bei der Gründung des DGB für die britische Zone

"Der Verwaltungssitz der Organisation ist in ..." Als 1947 der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) für die britische Zone gegründet wurde, war seine einstimmig verabschiedete Satzung nicht ganz vollständig. Die Entscheidung über den Sitz des Verbandes hing davon ab, wo die Militärregierung Büroräume zur Verfügung stellen würde, in Bielefeld oder Düsseldorf. Die Stadt am Rhein bot schließlich günstigere Arbeitsbedingungen.

Als Tagungsort für den Gründungskongreß vom 22. bis 25. April 1947 war die Wahl auf die ostwestfälische Stadt gefallen. 348 Delegierte sowie 25 Mitglieder von Zonenausschuß und -vorstand schufen dort "auf gutem gewerkschaftlichen Boden", wie ein Ortsfunktionär betonte, die Dachorganisation der Gewerkschaftsbewegung für den von den Briten besetzten Teil Deutschlands mit damals knapp zwei Millionen Mitgliedern.

Grundsätzliche Fragen über den Aufbau des Bundes waren aber bereits vorher entschieden worden. Vom 21. bis 23 August 1946 hatte schon eine Konferenz in Bielefeld getagt, zu der erstmals die Delegierten ordnungsgemäß von den einzelnen Gewerkschaften gewählt worden waren. In ihrer Entschließung über die Organisationsform heißt es unter anderem: "... sehen die in Bielefeld versammelten Vertreter von 1 1/4 Millionen organisierter Arbeitnehmer der britischen Zone in der umfassenden, absolut festgefügten und ideell einheitlich gerichteten Gewerkschaft das Instrument dessen die Schaffenden bedürfen, um höchst verantwortlich am gemeinsamen Werke der Erneuerung mitzuarbeiten. Der autonome Industrieverband, unterteilt in Berufsgruppen und Sparten und gleichzeitig regional den Bedürfnissen entsprechend aufgegliedert, ist, nach der Überzeugung der in Bielefeld Versammelten die Organisationsform, die den höchsten Wirkungsgrad verspricht. Einen Grad, der noch zu steigern wäre durch den Zusammenschluß aller Verbände in einem mit ausreichenden Vollmachten ausgestatteten Bund der gleichen demokratischen Verfassung wie die Verbände selbst. Arbeiter, Angestellte und Beamte organisatorisch zu vereinigen, ist das Gebot der Stunde."

Mit Befriedigung konnte vor allem die britische Militärregierung diesen Beschluß aufnehmen. Er bedeutete nämlich, daß sich die Besatzungsmacht mit ihren Prinzipen für den Wiederaufbau der deutschen Gewerkschaftsbewegung in ihrer Zone durchgesetzt hatte. Eine Arbeitnehmerorganisation ohne autonome Industrieverbände, wie sie in Niedersachsen mit der Allgemeinen Gewerkschaft bestand, entsprach ihren Vorstellungen nicht und scheiterte deshalb. Die Gewerkschafter mußten sich den Machtverhältnissen beugen. Beim Gründungskongreß des DGB wurde dann auch die dort vorgetragene Einschätzung des Vertreters der Manpower Division, Kenny, daß der Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung auf einer "völlig ungehinderten Willensbildung" der Mitglieder beruhe, durch andere Reden widerlegt. Den vorgeschriebenen langwierigen Entwicklungsweg von unten nach oben lehnten die meisten Gewerkschafter ab.

Von der Entscheidung zugunsten autonomer Industrieverbände waren vor allem die Gewerkschafter in Niedersachsen betroffen. Nur ungern paßten sie sich der Mehrheitsmeinung an. Über die unterschiedlichen Konzeptionen wurde auch beim Gründungskongreß des DGB für die britische Zone noch gestritten. Der Delegierte Louis Böcker klagte am zweiten Konferenztag: "Wenn man heute morgen anhörte, was die verschiedenen Redner über Niedersachsen sagten, gewinnt man den Eindruck, wir in Niedersachsen seien Hoch- und Landesverräter. Es fehlt nur noch, daß auch von den Diskussionsrednern das Strafmaß benannt würde. Ich möchte aber einiges zur Richtigstellung sagen. Wenn wir die Frage: Industrie-Organisation und die weiter damit zusammenhängenden Fragen erläutern, so darf ich darauf aufmerksam machen, daß wir im vorigen Jahr im August hier einen Beschluß gefaßt haben, daß die Industrie- Organisationen das Ziel unseres Gewerkschaftsaufbaus sein sollen, also daß die Vorbereitungen und die Arbeiten zum Aufbau dieser Industrie- Organisationen geschaffen werden. Dazu muß ich sagen, daß, trotzdem sich ein großer Teil der vorjährigen Delegierten hier im Saal zu dem Antrag des Kollegen Böckler ablehnend verhielt, wir uns aber den sich aus dem Beschluß ergebenden Folgerungen anpaßten." In seiner Verteidigungsrede verwies der niedersächsische Funktionär zudem darauf, daß die Gewerkschafter des Landes zu ungefähr 95 Prozent für die Allgemeine Gewerkschaft votiert hätten und diese Form immer noch für eine "höhere Entwicklungsstufe" hielten.

Weil sie im Grundsätzlichen unterlegen waren, stritten die Gewerkschafter aus Niedersachsen bei Details für eine starke Dachorganisation der Gewerkschaften. Die Ansichten kollidierten besonders bei zwei Problemen: wer sollte für die geplanten Unterstützungseinrichtungen zuständig sein und welchen Anteil von den Beitragseinnahmen müßte der DGB erhalten. In den Abstimmungen behauptete sich überwiegend die Antragskommission.

Paragraph 49 der Bundessatzung, nach einer ausführlichen Diskussion angenommen, bestimmte, daß der Bund zuständig sein solle für die Unterstützung von Erwerbslosen, Kranken, Alten und Invaliden sowie für die Zahlung von Sterbegeld. Der Antrag der Industriegewerkschaft Graphisches Gewerbe und Papierverarbeitung, diese Zuständigkeit den Einzelverbänden zu übertragen, hatte keine Mehrheit bekommen.

Paragraph sechs legte fest, daß die Gewerkschaften dem Bundesvorstand einen Beitrag zahlen sollten, "der ausreicht, um alle gewerkschaftlichen Aufgaben gemäß 2 dieser Satzung zu erfüllen". Als die Delegierten des Kongresses jedoch über den Anteil der Dachorganisation von ihren Einnahmen entscheiden mußten, differierten die Vorstellungen über die notwendigen Zuwendungen um immerhin 10 Prozent. Die Antragskommission verlangte für den Bund 35 Prozent der an die Einzelgewerkschaften gezahlten Beiträge. Ein Antrag der Industriegewerkschaft Metall wollte nur 25 Prozent zugestehen. Doch auch hier behauptete sich die Kommission.

Geprägt wurde der Gründungskongreß des DGB für die britische Zone nicht nur durch die Auseinandersetzungen über die Kompetenzen und die Finanzierung des Bundes. Ein weiteres Thema mit Zündstoff war die Organisierung der Angestellten. Nach dem Motto "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft" hatten sich viele Angestellte gemeinsam mit Arbeitern und Beamten in den Arbeitnehmerorganisationen zusammengeschlossen. In Hamburg entstand jedoch die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG), deren Aktivitäten bald über die Hansestadt hinausgingen. Daraus resultierten Konflikte mit den übrigen Gewerkschaften. Besonders ihre Methoden zur Abwerbung von Mitgliedern anderer Verbände brachten die DAG in Mißkredit.

Ein brauchbarer Kompromiß zwischen den Interessen der Angestelltenorganisation und den übrigen Gewerkschaften schien das sogenannte Frankfurter Abkommen vom März 1947 zu sein, eine Übereinkunft von Funktionären aller Besatzungszonen. Darin wird die Schaffung von Angestelltengewerkschaften empfohlen, gleichzeitig aber als "endgültiges Ziel" die "organisatorische Vereinigung aller Arbeitnehmer" betont. In einigen Bereichen sollten von Anfang an einheitliche Organisationen entstehen. Das waren: Bergbau, Energieversorgung, Stahl und Eisen, Chemie, öffentliche Verwaltungen und Betriebe sowie die öffentlichen Körperschaften.

Doch vom friedlichen Beieinander waren die Industrieverbände und die DAG auch nach dem Frankfurter Abkommen noch weit entfernt. Die hitzigen Diskussionen auf dem Gründungskongreß des DGB für die britische Zone demonstrierten, wie umstritten der Kompromiß war. Zur Rechtfertigung seiner Standesorganisation trug der DAG-Vorsitzende Wilhelm Dörr die Zukunftsprognose vor, wonach die Zahl der Angestellten stark zurückgehen werde. "Ich warne und bitte sie", appellierte er an die Delegierten, "die Angestellten vor dem Herabsinken ins Lumpenproletariat zu bewahren." Der Funktionär war sich sicher, "daß nur eine starke Gewerkschaft der Angestellten ihre Interessen vertreten kann". Schließlich drohte er mit der Abspaltung seines Verbandes vom Bund, wenn die Delegierten nicht für das Frankfurter Abkommen stimmen würden. "Er hat mich in meinem Entschluß fast irre gemacht", kritisierte Hans Böckler, ein Befürworter der Kompromißformel, den DAG- Vorsitzenden. Und er erläuterte: "Wenn man so etwas befürchtet, und die Angestellten haben sehr viel Grund dieses zu befürchten, ein Herabsinken auf eine niedrigere Stufe, dann würde ich als Angestellter sagen: dann suchst du rechtzeitig als Angestellter Schutz, dann schaust du nach, daß du Verbindungen bekommst zu denen, denen du künftig Klassen- und Standesgenosse sein wirst." Doch trotz dieser Einschätzung empfahl Böckler den Delegierten die Bestätigung des Frankfurter Abkommens, die auch erfolgte. Die Fehde zwischen der Standesorganisation und den Industrieverbänden blieb jedoch bestehen.

"Wir sind... einig im Wollen, wenn auch nicht immer hundertprozentig einig in bezug auf die Mittel und Wege, die zum Ziel führen müssen", resümierte Hans Böckler am Ende des Kongresses. Mit 311 Stimmen war der 72jährige zum Vorsitzenden des DGB gewählt worden. Einen Gegenkandidaten hatte der populäre Funktionär nicht, der zur Eröffnung des Kongresses schwärmte: "Von unzähligen Herzen heiß Ersehntes, von Millionen Hirnen Gewolltes", das solle in Bielefeld entstehen.

Astrid Brand, 1987
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