"Gern und freudig" üben sie ihre Rechte aus

Gewerkschafter loben Arbeitsgerichtsgesetz von 1926

Clemens Nörpel, Rechtsexperte des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), ließ sich nicht beirren. Trotz erster enttäuschender Erfahrungen mit dem am 13. Dezember 1926 im Reichstag verabschiedeten und zehn Tage später verkündeten Arbeitsgerichtsgesetz hielt er an seiner positiven Meinung darüber fest. Die Regelung habe eine "grundsätzliche Wandlung" in der reaktionären deutschen Justiz gebracht.

Der Funktionär war sich sicher: "Durch Aufklärung ... und Organisierung der Außenstehenden ... wird sich die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte immer mehr zu unseren Gunsten ausgestalten". Eindeutig verbuchte Nörpel das Gesetz für die Arbeitnehmerorganisationen auf der Habenseite. Nicht ganz zu Unrecht, denn die Gewerkschaften konnten in diesem Bereich der Sozialpolitik wichtige Zugeständnisse erreichen. Die Ablösung der von den Kommunen betriebenen Gewerbe- und Kaufmannsgerichte durch die Arbeitsgerichte hatte nicht nur einen formalen Charakter; den neuen Institutionen waren auch erweiterte Kompetenzen zugesprochen worden und in etlichen Fällen hatten die Arbeitnehmerverbände, besonders die Freien Gewerkschaften mit dem ADGB als Dachorganisation, die eigenen Vorstellungen über den Aufbau und die Verfahrensbestimmungen durchgesetzt.

Auf diesen Erfolg hatten sie geraume Zeit warten müssen, obwohl die Weimarer Verfassung schon 1919 festlegte: "Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs. Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht." Nach jahrelangem Gezerre um einen mehrheitsfähigen Entwurf für ein Arbeitsgerichtsgesetz stimmten ihm schließlich die Sozialdemokraten und der größte Teil der bürgerlichen Koalition unter dem Zentrumspolitiker Wilhelm Marx im Reichstag zu. Zu den Hauptforderungen der Gewerkschaften gehörte, daß die Arbeitsgerichte einen eigenständigen Zweig der Rechtsprechung bilden sollten. Da die Republikaner mit der erzkonservativen Richterschaft schlechte Erfahrungen gemacht hatten, pochten sie auf die Abkoppelung der Arbeitsgerichte von der ordentlichen Gerichtsbarkeit, in der Hoffnung auf einen "sozialen Geist" in den selbständigen Gerichten. Ihrem Wunsch wurde aber lediglich für die erste Instanz entsprochen. Die Landesarbeitsgerichte und das Reichsarbeitsgericht gehörten zur ordentlichen Gerichtsbarkeit.

Mißtrauen prägte auch das Verhältnis der Gewerkschaftsfunktionäre zur Anwaltschaft. "Der Arbeiter, der einen Anwalt zu seinem Vertreter nimmt, ist genau wie jetzt bei den Sozialbehörden von vornherein verraten und verkauft." So die gängige Argumentation, mit der für den Ausschluß der Rechtsanwälte von der ersten arbeitsgerichtlichen Instanz geworben wurde. Und Nörpel giftete in einem Zeitschriftenartikel: "Mit fliegenden Talaren rennen diese Herren von Kammer zu Kammer, unter dem Arm einen Aktenstoß, in welchem sie vor dem Gericht nervös wühlen, um den richtigen Akt zu finden. Derweil unterhalten sie sich mit dem Richter, um die Zeit zu finden, einen Blick in den Akt zu werfen. Man kann sich die 'Sachkunde' vorstellen, mit der dann die Vertretung erfolgt. Nun erst die Arbeitsstreitigkeiten über vielleicht fünfzig oder fünfundsiebzig Mark, wo gar nichts dabei zu erben ist. Zerstreut schaut der Rechtsanwalt auf die Uhr, ob die Zeit nicht so weit fortgeschritten ist, um Vertagung beantragen zu können... Der so 'sachkundig' vertretene 'Mandant' steht weinend neben dem Grabe seiner Hoffnungen und traut sich nicht, gegenüber seinem Rechtsanwalt auch nur zu mucksen." Solche pauschalen Verurteilungen mochten zwar einen wahren Kern haben, die Forderung nach der Nichtzulassung von Rechtsanwälten beruhte jedoch nicht nur auf der Abneigung gegen diese Berufsgruppe: Die Gewerkschaften wollten sich in der ersten Instanz ein Vertretungsmonopol sichern, was ihnen gelang. Ein kleiner Schönheitsfehler dabei war, daß diese Regelung ebenso den "gelben" wirtschaftsfriedlichen, von den Unternehmern unterstützten Gewerkschaften zugute kam. Sie gehörten zur Gruppe der "wirtschaftlichen Vereinigungen" der Arbeitnehmer. Zwar war vor der Verabschiedung des Arbeitsgerichtsgesetzes im Reichstag betont worden, daß die "Gelben" nicht für parteifähig gehalten würden, die Formulierung des Gesetzes ermöglichte ihnen aber, ihren Anspruch auf Berücksichtigung gerichtlich durchzusetzen.

Als Erfolg sahen die Arbeitnehmerorganisationen auch das Überwiegen der Laien gegenüber den Richtern in allen Instanzen an. Die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte waren mit einem "rechtsgelehrten" Richter und je einem Beisitzer von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite besetzt, die als Arbeitsrichter bezeichnet wurden. Beim Reichsarbeitsgericht kamen auf drei "rechtsgelehrte" Richter vier Laien. Die Beisitzer wurden, wie von den Gewerkschaften gefordert, aus Vorschlagslisten der Verbände berufen.

Die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte erstreckte sich vor allem auf Streitigkeiten der Tarifvertragsparteien über Tarifverträge und ihre Einhaltung sowie auf Arbeitskonflikte. Entgegen den Wünschen der Gewerkschaften waren für Strafsachen und für Auseinandersetzungen über Erfindungen von Arbeitnehmern ordentliche Gerichte zuständig. Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit entwickelte sich in der Weimarer Republik nicht so, wie die Gewerkschaftsfunktionäre gehofft hatten. Besonders das Reichsarbeitsgericht förderte patriarchalische, wirtschaftsfriedliche und damit gewerkschaftsfeindliche Strukturen in der Arbeitswelt. In einer Analyse urteilte 1931 der Vorsitzende des Arbeitsgerichts Berlin, Otto Kahn-Freund: "Heute ist das Arbeitsrecht geistig erstarrt. Die großen und neuen Ideen sind teilweise unverstanden geblieben und teilweise verwässert in das Bewußtsein der Juristenmassen übergegangen. Die Idee des Arbeitsrechts als eines Personenrechts ist von einem Werkzeug der unterdrückten Klasse zu einem Werkzeug der Beamtenschaft im Dienst eines kleinbürgerlich- wirtschaftsfriedlichen Ideals geworden... Es führen viele Wege zur Diktatur. Der nächste Weg zum Faschismus jedenfalls geht in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen nicht über die Gewalt, sondern über die Anbetung von Ruhe und Ordnung, von Fürsorge und Disziplin und vor allem über den ideellen Einbau der kämpfenden Organisationen in eine schemenhafte nationale Gemeinschaft." Nach Ansicht Kahn-Freunds urteilte das Reichsarbeitsgericht jedoch nicht völlig losgelöst von den Entwicklungen in der Arbeitnehmerschaft. Gerade die relative Zunahme der Angestelltenschaft hielt er für ein Problem. Sie sei "einer wirtschaftsfriedlichen Auffassung, verbunden mit sozialfürsorgerischer Tendenz, zugänglicher als die Arbeiterschaft".

Von den maßgeblichen ADGB- Vertretern wurde das rigorose Urteil des Berliner Arbeitsrichters nicht geteilt. Die Berechtigung von Kritik an den Urteilen des Reichsarbeitsgericht erkannten sie zwar an, aber - so Nörpel in einem Brief an Kahn-Freund - seine Rechtsprechung "faschistisch" zu nennen, sei "mehr als gefährlich, denn wir haben doch bestimmt keine Veranlassung, nun auch noch mit Gewalt den Teufel an die Wand zu malen".

Trotz ihrer Unzufriedenheit mit den Urteilen der Arbeitsgerichte - besonders der höheren Instanzen - schätzten die Gewerkschafter die Arbeitsgerichtsbarkeit insgesamt positiv ein. Eine überzeugende Erklärung dafür lieferte der Rechtsanwalt Franz Neumann, der zeitweise Syndikus des Deutschen Metallarbeiter- Verbandes war, in einem Aufsatz aus dem Jahr 1929. Er verwies darauf, daß die Arbeitnehmerorganisationen durch ihre Mitwirkung an der Rechtsprechung in den Staatsapparat der Weimarer Republik eingebunden worden seien: "Das Arbeitsgerichtsgesetz ist Ausdruck der sozialen Selbstverwaltung, der Staat überträgt den sozialen Organisationen die Erfüllung staatlicher Aufgaben. Aber nicht mehr der einzelne nimmt teil an der Selbstverwaltung, nicht mehr beruht die Teilnahme an der Ausübung staatlicher Hoheitsrechte auf Willensentschluß des isolierten Individuums, sondern die Gesetzgebung schaltet ein Kollektivum ein: die Koalition... Da aber die Koalition ein freier, genossenschaftlicher Zusammenschluß zum Zwecke der Selbsthilfe ist, so kommt die vereinigte Macht der Individuen bei der Selbstverwaltung einmal mit viel größerer Stärke und Intensität zur Geltung, zum anderen auch fühlt sich derjenige, der von dem Kollektivum zur Teilnahme an der Verwaltung vorgeschlagen wird, nicht mehr isoliert, nicht mehr ausgeliefert der Macht des Beamtentums, sondern er fühlt hinter sich einen starken Rückhalt in der genossenschaftlichen Selbsthilfeorganisation." Aus diesen Gründen nähmen die Gewerkschafter "gern und freudig an der Ausübung der Arbeits- und Wirtschaftsverfassung" teil.

Astrid Brand, 1988
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